Pilocarpin lässt Speichel wieder fließen |
25.09.2000 00:00 Uhr |
Seit mehr als 100 Jahren werden Jaborandiblätter mit ihrem Hauptalkaloid Pilocarpin in Europa therapeutisch eingesetzt. Man schätzte ihre Schweiß und Speichel treibende Wirkung. Seit Mitte Juli können Patienten mit extremer Mund- und Augentrockenheit Pilocarpin in Tablettenform einnehmen. In den USA und Großbritannien ist die perorale Therapie seit einigen Jahren etabliert.
Das direkte Parasympathomimetikum Pilocarpin wird in Deutschland bislang vor allem in der Augenheilkunde beim Glaukom eingesetzt. Lokal appliziert verengt es die Pupille und erweitert die Abflusswege für das Kammerwasser aus dem Auge. Systemisch entfaltet Pilocarpin ein breites Wirkspektrum: Es kurbelt die Sekretion exokriner Drüsen an, beispielsweise von Schweiß-, Speichel-, Tränen-, Magen-, Bauchspeichel- sowie Darmdrüsen und stimuliert Schleim produzierende Zellen in den Atemwegen. Außerdem kann es den Tonus der glatten Muskulatur, zum Beispiel der Bronchien, der Harn- und Gallenwege, erhöhen.
Jetzt sind erstmals magensaftresistente Tabletten mit 5 mg Pilocarpinhydrochlorid verfügbar (Salagen® von Ciba Vision). Sie sind zugelassen für Menschen mit Sjögren-Syndrom und Patienten, deren Speicheldrüsen durch eine Strahlentherapie bei Kopf- und Halstumoren schwer geschädigt wurden. Die Patienten leiden an extremer Trockenheit im Mund (Xerostomie) und am Auge (Xerophthalmie). Beides ist quälend: Der trockene Mund brennt, die Stimme ist heiser und schwach, Nahrung nur schwer zu schlucken, Zahnkaries und orale Infektionen können sich breit machen. Trockene Augen brennen und fühlen sich sandig an; oft klagt der Patient über Lichtscheu oder die Augenlider kleben zusammen. Künstliche Tränen und künstlicher Speichel können das Leiden nur vorübergehend lindern.
Mehr Linderung soll Pilocarpin bringen (drei- bis viermal täglich 5 mg; Maximaldosis 30 mg täglich). In zwei doppelblinden placebokontrollierten Studien mit mehr als 600 Patienten mit Sjögren-Syndrom stieg bereits nach der ersten Verumgabe die Speichelmenge. Der Effekt blieb über die Studiendauer von zwölf Wochen erhalten, wobei viermal 5 mg deutlich wirksamer waren als viermal 2,5 mg. Im Vergleich zum Placebo besserten sich die Symptome signifikant. Der Behandlungserfolg hängt letztlich von der verbliebenen Drüsenfunktion ab.
Auch Patienten nach Strahlentherapie profitieren von Pilocarpin. Die Tabletten reduzierten in zwei ebenfalls zwölfwöchigen placebokontrollierten Studien das Symptom Mundtrockenheit und steigerten die Speichelmenge. Die deutlichste Besserung verspürten Patienten, die vor Behandlung keinen messbaren Speichelfluss mehr hatten. Einige konnten die Begleittherapie reduzieren, zum Beispiel mit künstlichem Speichel.
Die Nebenwirkungen hielten sich in Grenzen. Etwa die Hälfte der Patienten klagte über vermehrtes Schwitzen, 11 bis 12 Prozent über Rhinitis, Kopfschmerzen und vermehrten Harndrang. Wichtig: Pilocarpin kann die Wirkung anderer anticholinerg wirkender Arzneistoffe wie zum Beispiel Ipratropiumchlorid antagonisieren. Bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Störungen, Nieren- oder Gallenwegserkrankungen sowie bei chronischem Asthma ist besondere Vorsicht geboten. Tipp für die Beratung: Tabletten mit einem Glas Wasser zu den Mahlzeiten einnehmen; eine sehr fettreiche Mahlzeit kann die Resorption des Wirkstoffs bremsen.
Glossar
Das Sjögren-Syndrom ist eine chronisch rheumatische Autoimmunerkrankung, bei der
exokrine Drüsen zerstört werden. Betroffen sind vor allem Frauen. Treten die
Sicca-Symptome zusammen mit einer anderen rheumatischen Erkrankung wie einer rheumatoiden
Arthritis auf, spricht man vom sekundären Sjögren-Syndrom. Die fortschreitende
Infiltrierung der Tränen- und Speicheldrüsen durch mononukleäre Zellen verringert die
Sekretion und führt letztlich zu einer extremen Xerose an Mund und Augen. Die Krankheit
gilt bislang als unheilbar. Die Behandlung soll Beschwerden lindern und die
Lebensqualität verbessern.
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