Große Zukunft für kleine Moleküle |
01.11.1999 00:00 Uhr |
Ob Interferone, monoklonale Antikörper oder Fusionsproteine - die Pharmakotherapie setzt immer stärker auf peptidhaltige Arzneistoffe. Doch diese Proteine bereiten vor allem den Technologen Kopfzerbrechen. Können die Wirkstoffe aufgrund ihrer schlechten Bioverfügbarkeit meist nur parenteral appliziert werden. Peptidomimetika lautet das neue Zauberwort: Arzneistoffe, die wie ihre körpereigene Vorlage an spezifischen Bindungsstellen angreifen und die Patienten aufgrund ihrer einfachen und kompakten Molekülstruktur jedoch auch als Tabletten schlucken können.
Für viele Chemiker ist das Wort Bioverfügbarkeit nach wie vor ein böhmisches Dorf. Sie basteln immer größere Moleküle, die im Magen-Darmtrakt kaum oder gar nicht resorbiert werden, beklagte Professor Dr. Peter Langguth, Technologe an der Universität Mainz, während der Zentralen Fortbildung der Landesapothekerkammer Rheinland-Pfalz in Mainz. Eine Therapie mit schlecht verfügbaren Arzneistoffen könne schlecht gesteuert werden und würde aufgrund der erforderlichen hohen Dosen oft teurer. Deshalb sei die Bioverfügbarkeit für die Industrie inzwischen ein entscheidender Parameter bei der Entwicklung neuer Arzneistoffe.
Die Bioverfügbarkeit musste bislang in klinischen Studien ermittelt werden. Dies sei nicht nur ethisch fraglich und aufwendig, sondern auch ziemlich teuer, so Langguth. Die Industrie suche deshalb intensiv nach Alternativen.
Inzwischen vereinfachte die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA das Zulassungsverfahren indem sie ein Biopharmazeutisches Klassifizierungssystem (BCS) für schnellfreisetzende perorale Applikationsformen einführte. Mit BCS kann die Bioverfügbarkeit anhand relativ einfacher Modelle in vier Klassen ein geteilt werden. Dazu wird lediglich die Löslichkeit und die intestinale Permeabilität des Arzneistoffs bestimmt.
Das System stuft Substanzen als gut löslich ein, deren höchste empfohlene Dosierung sich bei einem pH-Wert von 1 bis 8 in 250 ml oder weniger Wasser löst. Als gut permeabel gilt der Wirkstoff, wenn mindestens 90 Prozent der Dosis resorbiert werden.
Bislang bereite die Bestimmung der Permeabilität aber noch Schwierigkeiten, berichtete der Technologe. Die FDA bietet dazu drei verschiedene Verfahren an: Sie kann entweder mit einem Perfusionsverfahren am menschlichen Darm, im Tierversuch am freigelegten Darm anästhesierter Ratten oder anhand eines In-vitro-Modells mit Zellkulturen aus Darmenterozyten, dem sogenannten Transwell-System, ermittelt werden.
Das Transwell-System sei einfach und vor allem billig, so Langguth. Hierbei wird eine Monolayer von Darmepithelzellen auf einer Membran angezüchtet. Anschließend bringt man die Arzneistofflösung auf deren Oberfläche auf und bestimmt nach einem definierten Zeitraum die Wirkstoffkonzentration in der Lösung auf der anderen Seite der Zellschicht. Die Methode sei inzwischen voll automatisiert und liefere zuverlässige Ergebnisse, sagte der Referent. Dabei erhielten die Wissenschaftler auch wichtige Hinweise über die verschiedenen Transportwege durch die Zellschicht. So könnte mit dem Transwell-System untersucht werden, ob und wie Carriersysteme den Arzneistoff aktiv vom Darmlumen in den Blutkreislauf und umgekehrt transportieren.
Mit BCS lassen sich Arzneistoffe biopharmazeutisch besser beurteilen, das System vereinfacht die Zulassung und spart Kosten für klinische Studien, resümierte Langguth. Ausserdem könnten so Interaktionen erkannt und genauer vorhergesagt werden.
Es gibt noch viel zu tun
Peptidomimetika sind die Arzneistoffe der Zukunft, prognostizierte Professor Dr. Dr. Ernst Mutschler. Das ausgehende Jahrhundert habe einen gewaltigen pharmakologischen Fortschritt gebracht, es gebe aber noch immer therapeutische Defizite. Bis heute könnten weder entzündliche Darmerkrankungen, Krebs noch Arthrose und Rheuma kausal angegangen werden.
Für Rheumapatienten bestehe jedoch Hoffnung, so der Pharmakologe. Das rekombinante humane Tumornekrosefaktor-(TNF)-Fusionsprotein Etanercept soll demnächst auch in Deutschland zugelassen werden. Etanercept blockiert die TNF-a-Rezeptoren in der Synovialflüssigkeit und verhindert so die Entzündungen im Gelenk. Dabei verringert sich auch die Konzentration von Interleukin-1. IL-1 wird eine direkte Wirkung auf die Zerstörung von Gelenk und Knochen zugeschrieben.
Das Fusionsprotein ist bereits seit einem halben Jahr in den USA zugelassen. Mit der deutschen Zulassung rechnet der Hersteller Wyeth im Jahr 2000.
Auch bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer und Parkinson machen aktuelle Forschungsergebnisse Hoffnung, sagte Mutschler. Inzwischen sei man dem genauen Mechanismus des im ZNS lokalisierten NMDA-Rezeptors auf der Spur. Die Rezeptoren, an die sowohl Glutamat als auch Glycin bindet, steuern den Calciumeinstrom in die Nervenzellen. Strömt zuviel Calcium in die Neuronen, sterben diese ab; wahrscheinlich ein entscheidender Schritt in der Progression der Krankheit.
Bislang hätten Forscher nur eine Substanz entwickelt, die den Calciumkanal unspezifisch blockiert. Ziel der Wissenschaftler sei es nun, einen Arzneistoff zu finden, der ausnahmslos aktive, also geöffnete Kanäle verschließt. Als erfolgversprechend bezeichnete Mutschler den Arzneistoff Memantin. Das Medikament wird bis dato zur Behandlung leichter bis mittelschwerer Hirnleistungsstörungen eingesetzt.
Good bye Mutschler
Den Jahrtausendwechsel will Professor Dr. Ernst Mutschler zum Anlass nehmen, seine
wissenschaftliche Laufbahn endgültig zu beenden. Dass dieses Referat einer seiner letzten
öffentlichen Vorträge sei, nahm das Auditorium in Mainz mit Bedauern zu Kenntnis.
Mutschler nutzte seinen Abschied vom Podium für einen Appell an die Kollegen: Jede
Therapie, egal ob internistisch, chirurgisch oder medikamentös, ist eine Hilfe auf Zeit.
Wer sich das bewusst mache, bleibe bescheiden.
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