Pharmazie
Insgesamt 33 neue Substanzen, die zwischen Juli 1997 und Juni 1998 in
Deutschland auf den Markt gebracht wurden, stellten PZ-Chefredakteur Dr.
Hartmut Morck, Eschborn, Dr. Hermann Liekfeld, Mülheim/Ruhr, und Dr.
Lutz Schneider, Wuppertal in einem Vortrag während des
Expopharm-Kongresses in München vor.
Diese Arzneimittel waren Gegenstand der Auslobung des PZ-Innovationspreises
1998, so Morck. Den Kriterien dieses Preises, entweder eine innovative Substanz
zu sein, die ihresgleichen sucht, oder ein Stoff, der eine neue Indikation abdeckt,
entsprächen drei Substanzen: das Glaukom-Mittel Latanoprost, das
Antiasthmatikum Montelukast sowie Tolcapon zur Behandlung von Morbus
Parkinson. Da keiner dieser Stoffe eine neue Indikation abdeckt, habe man
entscheiden müssen, welche Substanz gegenüber den bisherigen Arzneistoffen für die
jeweilige Indikation einen klinischen Vorteil bringt.
Nach eingehender Prüfung der Unterlagen, insbesondere der Ergebnisse aus den
klinischen Studien, habe sich die Jury unter dem Vorsitz von Professor Dr. Ulrich
Schwabe, Heidelberg, für Tolcapon der Firma Hoffmann-La Roche als
PZ-Innovationspreisträger 1998 entschieden. "Die Jury ist überzeugt, daß dieses
Arzneimittel einen deutlichen Fortschritt bringt und die Basistherapie mit L-Dopa
über einen längeren Zeitraum möglich macht", betonte Morck bei der Übergabe des
Preises an Dr. Karl H. Schlingensief, Vorstandsmitglied bei Hoffman-La Roche
(siehe auch PZ 40/98 auf Seite 48).
Latanoprost und Montelukast
Das lokale Glaukommittel Latanoprost, ein neues Prostaglandin-F2a-Analogon
erhöht als selektiver Agonist den uveoskleralen Kammerwasserabfluß - ein neuer
Wirkmechanismus in der Glaukomtherapie. Der Augeninnendruck sinkt. Der
eigentliche Wirkstoff ist die Latanoprostsäure, die aus dem Latanoprost, dem
Isopropylester der Säure, nach enzymatischer Hydrolyse erst in der Cornea gebildet
wird, sagte Morck. Eine Dosis von 50ug/ml einmal täglich habe sich in klinischen
Prüfungen als optimal erwiesen. Sie sei mindestens so effektiv wie Timolol (0,5
Prozent) zweimal täglich.
Montelukast ist der erste am Markt verfügbare, für die Indikation leichtes bis
mittelgradiges chronisches Asthma zugelassene Leukotrien-Rezeptorantagonist. Er
bindet an Cys-LT1-Rezeptoren in den Atemwegen und hemmt ohne agonistische
Eigenaktivität die Wirkungen der Leukotriene: Förderung der Entzündungsvorgänge,
Bronchokonstriktion, Erhöhung der Gefäßpermeabilität und vermehrter
Schleimsekretion. Montelukast weist damit zugleich antientzündliche und
bronchodilatierende Effekte auf, betonte der Referent.
Analgetika, Antirheumatika, Antibiotika, Chemotherapeutika
Als neue Substanz aus der Gruppe der Analgetika/Antirheumatika stellte Morck
Levacetylmethadol vor. Es wurde als erste Substanz europaweit für die Substitution
von Opiatabhängigen zugelassen. Vergleichbar mit Diclofenac in seiner
antiinflammatorischen und analgetischen Wirkung sei Aceclofenac. Der
Hydroxyessigsäureester des Diclofenac sei es keine wirklich neue Substanz, auch
wenn gastrointestinale Nebenwirkungen gedämpfter auftreten.
Morck stellte vier neue Substanzen aus dem Bereich der Antibiotika und
Chemotherapeutika vor. Levofloxacin ist ein Gyrasehemmer aus der Gruppe der
Fluorochinolone, Nevirapin der erste nicht-nukleosidische
Reverse-Transkriptase-Hemmer für die Behandlung von HIV-Infektionen. Der
Proteasehemmer Nelfinavir wurde zur Behandlung von HIV-Infektionen bei
Erwachsenen und Kindern in Kombination mit antiretroviralen Nukleosidanaloga
zugelassen. Beim Cidofovir handelt es sich um ein antiviral wirksames
Nukleotidanalogon zur Behandlung der Cytomegalie-Retinitis bei Aids-Patienten.
Der Referent stellte desweiteren das Antidot Cysteamin vor. Als sogenanntes
orphan drug (Arzneimittel gegen seltene Krankheiten) ist das 2-Aminoethanthiol
zugelassen zur Behandlung der nephropathischen Cystinose bei Kindern und
Erwachsenen. Gegenstand des Vortrages von Morck war darüber hinaus die
Imiglucerase zur langfristigen Enzym-Ersatztherapie bei Morbus Gaucher. Als neue
Migränemittel erläuterte Morck Zolmitriptan und Naratriptan.
Antiallergika, Antidementiva...
Als Weiterentwicklung des Terfenadins könnte das Fexofenadin bezeichnet werden,
das von einigen Experten als Vertreter der dritten Generation der
H1-Antihistaminika definiert wird. Schneider hob hervor, daß im Gegensatz zu
Terfenadin keine QT-Streckenverlängerung beobachtet wird. Bei einer Einmalgabe
von 120 bis 180 mg wirke Fexofenadin 24 Stunden und es sei keine Sedierung zu
beobachten. Nicht wirklich neu sei das Mizolastin, ein H1-Antihistaminikum zur
symptomatischen Behandlung der saisonalen und perennialen allergischen
Rhinokonjunktivitis sowie der Urtikaria. Von der chemischen Struktur her habe
Mizolastin Ähnlichkeit mit Astemizol.
Als Antidementiva nannte Schneider Rivastigmin und Donepezil. Von allen bisher
untersuchten Acetylcholinesterase-Hemmer, die zur Therapie der Alzheimer
Krankheit eingesetzt werden, zeige Rivastigmin die umfassendste Wirkung. Es
verbessere nicht nur der kognitiven Fähigkeiten der Patienten sondern auch deren
Alltagsaktivitäten. Der wesentliche Vorteil gegenüber Tacrin liege im guten
Sicherheitsprofil: keine hepatischen, kardiovaskulären oder pulmonalen Effekte.
Eine vergleichende klinische Studie von Tacrin mit Donepezil, dem zweiten
Cholinesterase-Hemmer zur symptomatischen Behandlung der leichten bis
mittelschweren Alzheimer-Demenz, liege noch nicht vor. Für Donepezil konnte
bisher nur im Vergleich zu Placebo eine mäßige Verbesserung des kognitiven
Verhaltens bei Alzheimer-Patienten nach dem "Alzheimer Disease Assessment
Scale"-Score nachgewiesen werden.
...Antidiabetika und Antiemetika
Nicht wirklich neu sei das Antidiabetikum Miglitol, da es sich durch den gleichen
Wirkmechanismus und gleiche Nebenwirkungen wie Acarbose auszeichnet. Miglitol
wird als zweiter a-Glucosidasehemmer nach Acarbose bei nicht-insulinpflichtigem
Diabetes mellitus in Verbindung mit Diät oder Diät und Sulfonylharnstoffen
eingesetzt.
Von einer marginalen Verbesserung der Indikation sprach Schneider im
Zusammenhang mit Dolasetron, einem Antiemetikum, das nach Granisetron,
Ondansetron und Tropisetron der vierte Vertreter der selektiven 5 HT3-
Rezeptorantagonisten ist, die zur Prophylaxe Zytostatika-bedingten Erbrechens
eingesetzt werden. Dolasetron ist darüber hinaus in Deutschland der erste Vertreter
dieser Gruppe, der auch zur Prophylaxe und Therapie des postoperativen
Erbrechens zugelassen ist. Schneider betonte, daß zur Beurteilung des
therapeutischen Stellenwertes von Dolasetron auch ökonomische Aspekte zu
berücksichtigen sind.
Lipidsenker, Psychopharmaka, Urologika
Als sechsten HMG-CoA-Reduktasehemmer, der zur Senkung erhöhter
Cholesterol-Werte zugelassen wurde, wenn die Diät allein eine ungenügende
Wirkung zeigt, nannte Schneider das Cerivastatin. Im Vergleich zu den bisher
verfügbaren Substanzen kann Cerivastatin in deutlich geringerer Dosierung das
LDL-Plasmacholesterol um bis zu 33 Prozent senken. Die HDL-Cholesterolspiegel
werden geringfügig erhöht, die Triglyceride um bis zu 17 Prozent gesenkt. Der
Grund für die niedrige Dosierung könnte in einer hohen Affinität zum Schlüsselenzym
HMG-CoA-Reduktase liegen und darin, daß die Metaboliten ebenfalls die
Cholesterolsynthese hemmen.
Teil des Vortrages von Schneider waren auch die Psychopharmaka Sertindol und
Nefazodon. Besonders Nefazodon, ein Antidepressivum, das selektiv den 5 HT
1A-Rezeptor blockiert und gleichzeitig die Serotonin-Wiederaufnahme hemmt,
zeichne sich durch ein sehr viel günstigeres Nebenwirkungsprofil aus als das
Imipramin bei vergleichbarer Wirksamkeit.
Tolterodin ist ein kompetitiver Muscarinrezeptor-Antagonist, der zur Behandlung der
instabilen Harnblase verbunden mit den Symptomen imperativer Harndrang,
Pollakisurie und Drang-Inkontinenz zugelassen wurde. Verglichen mit Oxybutynin
soll Tolterodin stärker die glatte Muskulatur der Harnblase inhibieren als die
Speicheldrüsenfunktion. Damit konnte die Mundtrockenheit als Nebenwirkung stark
zurückgedrängt werden.
ß-Rezeptorenblocker, Calcium-antagonisten und ACE-Hemmer
Liekfeld stellte unter anderem Neuigkeiten auf dem Gebiet der
ß-Rezeptorenblocker, Calciumantagonisten und ACE-Hemmer vor: Lacidipin -
zugelassen für die Therapie der essentiellen Hypertonie - ist ein Calciumkanalblocker
vom Dihydropyridin-Typ, der neben Amlodipin zur dritten Generation der
Calciumantagonisten gezählt wird. Das besondere Merkmal von Lacidipin
gegenüber den bisherigen Dihydropyridin-Analoga sei eine tertiäre Butylgruppe am
Ethenyl-Substituenten in ortho-Stellung des aromatischen Ringes.
Diese große lipophile Gruppe bestimme die kinetischen Eigenschaften, Der
Wirkstoff docke langsamer an die Bindungsstelle und dissoziiere langsamer dieser.
Das führe zu einem hohen Membran-Vertei-lungskoeffizienten. Das heißt, es kommt
zu einer Speicherung von Lacidipin im tiefen Lipid-Kompartiment der Membran, aus
dem kontinuierlich Substanz an die Bindungsstelle freigesetzt wird. Daraus resultiert
die lange Wirkdauer von Lacidipin, die die einmal tägliche Gabe von 6 mg
ermöglicht, so Liekfeld.
Mibefradil, ebenfalls zur Behandlung der essentiellen Hypertonie zugelassen, ist
darüber hinaus auch für die Therapie der stabilen Angina pectoris indiziert. Mit
Mibefradil stehe der erste Calciumantagonist zur Verfügung, der vorwiegend
Affinität zu den T-Kanä-len zeigt, allerdings auch an die L-Kanälen bindet. Die
Hemmung der Calcium-Einströme über die L- und T-Kanäle entsprächen einem
Verhältnis von circa 30 zu 100. Dieses Rezeptorbindungsverhalten könnte für das
Fehlen einer negativ inotropen Wirkung bei der empfohlenen Tagesdosis, für eine
geringe Herzfrequenzminderung und eine selektive Vasodilatation verantwortlich
sein.
Obwohl noch einige Fragen offen sind, werde von Experten aufgrund der
vorliegenden klinischen Daten Mibefradil als eine Verbesserung der derzeitig zur
Verfügung stehenden Therapie mit Calciumantagonisten bei der Hypertonie und der
stabilen Angina pectoris gewertet. Strukturvergleiche konnten belegen, daß eine
gewisse Ähnlichkeit zum Verapamil besteht.
Antihypertonika, Glaukom- und Antiparkinsonmittel
Zu den neuen Arzneistoffen des Jahres 1998 zählen darüber hinaus aus der Gruppe
der Antihypertonika Eprosartan, Irbesartan und Candesartan. Zugelassen wurde
auch Mangafodipir, ein Manganat-Komplexsalz und Diagnostikum, das aufgrund
seiner paramagnetischen Eigenschaften zur Kontraststeigerung während einer
Magnetresonanz-Tomographie der Leber zugelassen wurde. Als Arzneimittel für die
Indikation akute intermittierende Porphyrie, Porphyrie variegata und hereditäre
Koproporphyrie ist Hämin, ein Porphyrin-Komplex mit dreiwertigem Eisen,
zugelassen worden.
Liekfeld stellte Brimonidin vor; neben Latanoprost ein weiteres Ophthalmikum, das
zur lokalen Anwendung am Auge für Patienten mit Offenwinkelglaukom oder
okularer Hypertension zur Verfügung steht. Auch in der Gruppe der Parkinsonmittel
gibt es ein zweites Präparat, das 1989 zugelassen wurde: Der neue Dopaminagonist
Pramipexol ist chemisch nicht mit den Ergoliden vergleichbar, sondern es handelt
sich um ein Benzylthiazolderivat.
PZ-Artikel von Christiane Berg, München
© 1997 GOVI-Verlag
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