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30.11.1998 00:00 Uhr |
Pharmazie
FORTBILDUNG IN HESSEN
"Ich bin zwar gebeten worden, nicht über Arzneistoffe zu sprechen", sagte Professor
Dr. Josef Pfeilschifter vom Institut für allgemeine Pharmakologie des
Universitätsklinikums Frankfurt. Aber aktive und passive Transportsysteme durch
die Membran ließen sich nun mal am besten anhand von Arzneistoffen verdeutlichen.
Arzneistoffe können Ionenbewegungen außer an Ionenkanälen durch Angriff an
Transportsystemen beeinflussen, die entweder aktiv unter Energieverbrauch
(Ionenpumpen) oder passiv durch erleichterte Diffusion (Carrier) transportieren.
Carrier erleichtern polaren Substanzen den Eintritt in die Zelle, indem sie den
Konzentrationsgradienten zwischen beiden Membranseiten ausnutzen. Das führt im
Vergleich zur reinen Diffusion zu einer gesteigerten Umsatzrate. Diese kommt durch
eine pulsierende Bewegung von Ladungen und Bindungsstellen der Carriereproteine
zustande. Charakteristisch für Carrier-erleichterte Transportprozesse sind hohe
Strukturspezifität, Sättigung des Transportsystems und Möglichkeit zur Hemmung
durch Inhibitoren.
Stoffwechselgifte hemmen die Carrier jedoch nicht. Pfeilschifter nannte die Diuretika
als Bespiele für selektive Inhibitoren der Elektrolyttransporte. Schleifendiuretika vom
Furosemid-Typ blockieren den Na+/K+/2Cl-Cotransporter; der
Na+/Cl-Cotransporter ist Angriffspunkt der Thiazide.
Müssen Ionen im Organismus gegen ein Konzentrationsgefälle transportiert werden,
springen Ionenpumpen ein. Ihre Arbeit kann man sich wie einen Bergauftransport
vorstellen. Am besten untersucht, sei die Natrium-Kalium-ATPase der
Herzmuskelzelle, sagte Pfeilschifter. Dieses Transportsystem schafft Natriumionen
aus der Zelle und sorgt für den Kaliumtransport in entgegengesetzter Richtung.
Mittels der durch ATP-Spaltung gewonnenen Energie werden drei Natriumionen
gegen zwei Kaliumionen ausgetauscht. Mit jedem Zyklus wird somit eine positive
Ladung aus der Zelle entfernt. Herzglykoside greifen an der Na+/K+-ATPase an.
Als zweites Beispiel für eine Ionenpumpe, die in der Arzneimitteltherapie Bedeutung
erlangt hat, nannte Pfeilschifter die Protonen-Kalium Pumpe.
Protonenpumpenblocker unterdrücken die Salzsäureproduktion im Magen, indem
sie die Protonen-Kalium-ATPase hemmen.
Beim Streifzug über die Membran-Transportwege dürfen Effluxtransportsysteme
nicht fehlen. Sie seien in hohem Maße für die Resistenzbildung gegen Zytostatika und
Azol-Antimykotika verantwortlich, erklärte Pfeilschifter. Effluxtransporter braucht
die Zelle, um sich von Fremdstoffen entledigen zu können, also auch von
Arzneistoffen. Ein Beispiel ist das P170-Glykoprotein, das aktiv Chemotherapeutika
aus der Zelle befördert. Ist das P170-Glykoprotein jedoch mutiert, wird es verstärkt
exprimiert. Dann haben Chemotherapeutika keine Chance mehr, in der Zelle
verweilen und wirken zu können. Eine Resistenz ist die Folge. "So kann es
passieren, daß Krebspatienten sogar über Nacht gegen mehrere Zytostatika
resistent werden. Man spricht von der Multi-Drug-Resistenz", informierte
Pfeilschifter. Verapamil ist in der Lage, den Transporter zu blockieren, so daß
Zytostatika wieder effektiv wirken können.
Charakteristisch für das P170-Glykoprotein sind seine zwei intrazellulären
kugelförmigen ATP-Bindungsstellen. Diese beiden Domänen sind typisch für eine
ganze Familie von Proteinen, die ABC-Transporter (ABC = ATP-binding-cassette).
Dazu gehört beispielsweise der CDR-Transporter, den man als Übeltäter für
Resistenzen gegen Candida albicans ausfindig gemacht hat, erklärte der Referent.
Bei immunsupprimierten Patienten wird der CDR-Transporter verstärkt auf der
Zelloberfläche exprimiert; Azol-Derivate wie Fluconazol werden mit hohem Umsatz
aus der Zelle herauskatapultiert und sind deshalb gegen das Pilzwachstum machtlos.
Verapamil hat bei diesem Transporter keine Chance, die Verweilzeit des
Arzneistoffs im Zellinneren zu erhöhen.
"Der Ionenkanal ist nichts Mystisches mehr", sagte Dr. Andreas Busch von Hoechst
Marion Roussel Deutschland, Frankfurt. Seit der Klonierung des ersten für einen
Ionenkanal kodierenden Gens vor 15 Jahren habe sich das Wissen über die
physiologische Rolle, die Pharmakologie und die molekulare Struktur von
Ionenkanälen rasant entwickelt. Eine Vielzahl der heute bekannten
Ionenkanal-Modulatoren seien in die Pharmakotherapie eingeführt worden, ohne
überhaupt die molekulare Basis ihrer Wirkung zu kennen. Oft habe man nicht einmal
gewußt, daß diese Modulatoren auf Ionenkanäle wirken, so beispielsweise die
Sulfonylharnstoffe für Typ-2-Diabetiker oder Kalium-sparende Diuretika.
Nicht jeder Ionenkanal funktioniert nach dem gleichen Mechanismus. Ihnen ist aber
gemeinsam, daß sie sich durch Konformationsänderung der Kanalproteine öffnen
und schließen. Werden die Kanäle durch Bindung von Liganden beeinflußt, spricht
man von Liganden-gesteuerten Ionenkanälen. Dazu gehören die NMDA- oder die
GABA-Rezeptoren. Spannungsabhängige Ionenkanäle öffnen oder schließen durch
Membran-Depolarisation oder -Hyperpolarisation. Klasse-I-Antiarrhythmika oder
Lokalanästhetika schließen spannungsabhängige Natriumkanäle.
Eine dritte Kanalgruppe fasse man unter dem Begriff background channels
zusammen. "Auch in der deutschsprachigen Literatur wird die englische Bezeichnung
verwendet", informierte Busch. Diese Membranporen schließen und öffnen sich
durch randomisierte Konformationsänderungen. "Die treibende Kraft zumindest für
einen Teil dieser Kanäle sind intrazelluläre Proteine oder Moleküle, die den Kanal
blockieren. Fehlt diese Substanz, weitet sich der Kanal." Busch nannte den
epithelialen Natriumkanal als Beispiel für einen background channel. Dieser sitzt im
distalen Tubulus der Niere und ist die Zielscheibe für Kalium-sparende Diuretika wie
Triamteren oder Amilorid. Kalium-retinierende Diuretika verhindern den
Kalium-Efflux, weil sie die Eintrittspforte für Natrium im distalen Tubulus
abschirmen. Diese Eigenschaft macht man sich bei der Kombination mit
Schleifendiuretika oder Hydrothiaziden zunutze.
Bei verschiedenen Erbkrankheiten ist der epitheliale Natriumkanal defekt, er
überreagiert. Beim Liddle-Syndrom kann durch Mutationen ein Teil der a- und
ß-Untereinheit des Kanals nicht mehr binden, die Membranpore bleibt offen. Folge:
Die massive Rückresorption von Natrium bedingt einen starken Hypertonus. Die
Medikation eines Kalium-sparenden Diuretikums ist zwingend. Busch: "Erst nach
der Klonierung des Ionenkanal-Gens ist es gelungen, das Liddle-Syndrom auf
Gendefekte des Ionenkanals zurückzuführen." Dieser Defekt sei bei Kaukasiern
recht selten, aber für Afroamerikaner konnten Wissenschaftler eine signifikante
Risikoerhöhung beweisen.
Professor Dr. Klaus Mohr vom Institut für Pharmakologie und Toxikologie der
Universität Bonn berichtete in Gießen über G-Protein-gekoppelte Rezeptoren. Dazu
gehören beispielsweise Histamin-, Prostaglandin- oder Leukotrien-Rezeptoren. Sie
bestehen aus einem Peptidfaden, der sich in sieben transmembranalen Domänen
durch die Membran schlängelt. Davon liegen drei Schleifen extra- und vier
intrazellulär.
Ein G-Protein (Guanyl-Nucleotide-bindendes-Protein) löst nach Andocken des
Liganden an den Rezeptor und dessen dadurch induzierter Konformationsänderung
eine weitere Reaktionskaskade aus. Für die Signaltransduktion ist die dritte
intrazelluläre Schleife verantwortlich.
Was ist auf molekularer Ebene der Mittler zwischen Ligandbindung und der
Aktivierung des G-Proteins, also der Signaltransduktion? Mohr: "Früher hieß es:
Das hat man sich wie das Schlüssel-Schloß-Prinzip vorzustellen, und zwar mit dem
Rezeptor als Schloß." Mit dieser Erklärung könne man sich aber nicht zufrieden
geben. "Es ist schon erstaunlich, daß ein kleines Molekül wie Acetylcholin oder
Noradrenalin es schaffen kann, ein relativ großes Rezeptorprotein zu einer neuen
Konformation und damit zu einer anderen funktionellen Handlungsweise, nämlich der
Aktivierung des G-Proteins, zu bringen."
Das Problem ist bis heute auf molekularer Ebene nicht geklärt, so Mohr. Doch
arbeite man grundsätzlich mit zwei Modellen. Die klassische Vorstellung beruht
darauf, daß der Agonist an den Rezeptor andockt, dessen Konformation ändert und
dadurch den Effekt auslöst. Antagonisten binden ebenfalls an den Rezeptor; da aber
die Konformation nicht verschoben wird, wird auch kein Effekt vermittelt.
Die zweite Vorstellung, wie ein Agonist wirken könne, berücksichtigt nach den
Ausführungen Mohrs nicht die Induktion einer neuen, sondern die Stabilisierung einer
spontan auftretenden aktiven Konformation. Das heißt, Rezeptorproteine unterliegen
einer spontanen Fluktuation von einer aktiven in eine inaktive Form. Warum dieser
Wechsel initiiert werde, sei unbekannt. Agonisten sind nur dann zum Rezeptor affin,
wenn dieser in aktiver Konformation vorliegt. Die Bindung an den Rezeptor
bedeutet eine Stabilisierung des Systems. Agonisten haben dagegen keine Affinität
zum Rezeptor in inaktiver Form. "Umgekehrt läuft es bei den Antagonisten: Diese
fischen sich die inaktive Rezeptorkonformation heraus und verhindern, daß
Agonisten die aktive Konformation vorfinden", erklärte Mohr.
Mohr hält das neuere Agonist-Antagonist-Modell für attraktiv und lieferte auch
gleich zwei Begründungen. Zum einen erkläre es, warum die strukturell
unterschiedlichsten Antagonisten den M2-Rezeptor zu hemmen vermögen. Die
Antagonist haben die unterschiedlichsten Bindungsorte am Rezeptor. "Nach dem
neueren Modell muß nicht ein Schlüssel in ein Schloß passen, sondern der
Antagonist muß den inaktiven Zustand der Rezeptorkonformation stabilisieren, egal
wie und wo er andockt", formulierte Mohr. Deshalb spiele der variable Bindungsort
am M2-Rezeptor auch keine Rolle.
Zum zweiten könne man mit dem Modell Erkrankungen wie die Pubertas praecox
oder das autonome Adenom der Schilddrüse verständlicher erklären. Beispiel
Pubertas praecox: Durch Rezeptormutationen seien verschiedene
Rezeptorpopulationen des Luteinisierenden Hormons in gesteigertem Maß in der
aktiven Konformation vorzufinden. Deshalb wird vermehrt Testosteron
ausgeschüttet, was zur verfrühten Pubertät führt. Der Referent glaubt, daß dieses
Modell nicht nur für G-Protein-gekoppelte Rezeptoren interessant sein könnte,
sondern daß es eventuell auch auf andere Rezeptoren ausgedehnt werden
kann.
Vollwaschgang in Sachen Enzymatik
Der Marktanteil von Pharmaka, die gezielt Enzymsysteme aktivieren oder hemmen,
wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Zudem kommen die Biokatalysatoren
nicht nur als Targets für innovative Wirkstoffe in Betracht; sie bilden auch die
Grundlage für eine immer empfindlichere und spezifischere Diagnostik. Mit einem
Vollwaschgang in Sachen Enzymatik wappnete Professor Dr. Theo Dingermann,
Frankfurt, fortbildungswillige Apothekerinnen und Apotheker für die Zukunft.
Inzwischen haben Wissenschaftler mehr als 4000 verschiedene Enzyme identifiziert
und in sechs große Klassen eingeteilt. Oxidoreduktasen wie beispielsweise die
Alkoholdehydrogenase katalysieren Reaktionen, bei denen Protonen oder
Elektronen übertragen werden. Die Enzymgruppe der Transferasen überträgt ein
Atom oder eine Atomgruppe zwischen dem Substratpaar. Ein bekanntes Beispiel ist
die Catechol-O-Methyl-Transferase (COMT), die den Abbau von Catecholaminen
katalysiert. Hydrolasen spalten kovalente Bindungen und verbrauchen dabei ein
Wassermolekül. Das geschieht unter anderem im Angiotensin-Stoffwechsel: ACE
katalysiert die Bildung des Dipeptids Angiotensin II aus dem Dekapeptid
Angiotensin I. Dagegen spalten die Lyasen Gruppen ohne Wasserverbrauch ab und
hinterlassen eine Doppelbindung. Ein Enzym dieser Gruppe ist die Ammoniaklyase.
Die Enzymgruppe der Ligase katalysiert die Bindung zwischen zwei Substraten,
meist unter ATP-Verbrauch. So werden beispielsweise DNA-Fragmente
miteinander verbunden. Die sechste Gruppe faßt sogenannte Isomerasen zusammen.
Enzyme wie die Retinal-Isomerase sind an Molekülumlagerungen beteiligt.
Die Bezeichnung Biokatalysator verdanken Enzyme ihrer Eigenschaft, chemische
Reaktionen schon bei Raumtemperatur und neutralem pH-Wert in Gang zu bringen.
Sie setzten dabei die Aktivierungsenergie herab. Nach Meinung Dingermanns eine
bemerkenswerte Leistung, da Umsetzungen ohne die Katalysatoren im Reagenzglas
oft nur bei extrem hohen Temperaturen und unphysiologischen pH-Werten ablaufen.
In seinem Vortrag ging Dingermann auf die sogenannten allelischen Enzymproteine
ein. Nicht bei allen Organismen einer Art codieren identische Gene für ein
spezifisches Enzym. Durch eine genetische Variation kann ein abweichendes Protein
gebildet werden, daß auch in seiner Funktion beeinträchtigt ist. Bei Personen, die ein
derartiges Allel besitzen, können deshalb auch Arzneimittel unterschiedlich wirken.
So stellten Wissenschaftler fest, daß der Stoffwechsel von Organismen, deren
Enzym-codierende Gene variieren, schneller oder langsamer acylierte oder
hydroxylierte.
Die Enzymkinetik bildet eine wichtige Grundlage für das Verständnis von
enzymatischen Prozessen. Die Menge an vorliegendem Substrat bestimmt bis zu
einer gewissen Konzentration die Reaktionsgeschwindigkeit. Ist wenig Substrat
verfügbar, liegen Enzymmoleküle vorwiegend als freie Enzyme und nicht als
Enzym-Substrat-Komplexe vor. Die Reaktionsgeschwindigkeit ist proportional der
Substratkonzentration. Erst wenn alle Enzyme belegt sind, kann die
Umsetzungsgeschwindkeit nicht weiter gesteigert werden. Eine wichtige Kenngröße
für jedes Enzym-Substrat-Paar ist deshalb die Substratkonzentration, die nötig ist,
um die halbmaximale Geschwindigkeit zu erreichen. Sie wird als Km-Wert oder
Michaelis-Menten-Konstante bezeichnet.
Enzymatische Reaktionen können beeinflußt werden, indem man die Enzymaktivität
oder konzentration ändert. Effekte, die durch Regulation der Aktivität erzielt
werden, treten meist schneller ein, da sie nicht von Neusynthese oder Degradation
der Enzyme abhängen. Die Enzymaktivität kann durch sogenannte isosterische und
allosterische Mechanismen reguliert werden. Bei der isosterischen Regulation
konkurrieren ähnliche Enzyme oder Substrate. Bestes Beispiel ist die kompetitive
Enzymhemmung, aus pharmazeutischer Sicht die wichtigste Variante. Eine zweite
Substanz konkurriert mit dem Substrat um das aktive Zentrum des Enzyms.
Dingermann nannte in diesem Zusammenhang die HMG-CoA-Hemmmer. Das
Cholesterol-bildende Enzym wird durch eine dem Substrat ähnliche Struktur, die
nicht umgesetzt werden kann, blockiert.
Die Suizidinhibtion ist ein Sonderfall der isosterischen Regulationsmechanismen. In
diesem Fall wird das konkurrierende Substrat auch umgesetzt, die Reaktion läuft
aber nicht vollständig ab. Bestes Beispiel: Ethinylestradiol. Das Estrogen inhibiert
Cytochrom P450 3A4, das für den schnellen First-pass-Effekt von Estradiol und
Estron verantwortlich ist. Weil Ethinylestradiol das Enzym hemmt, durch das es
selbst metabolisiert wird, verlängert sich seine eigene Halbwertszeit; es wird oral
bioverfügbar.
Im Gegensatz zur isosterischen Regulation treten allosterische Regulatoren nicht mit
dem aktivem Zentrum des Enzyms in Wechselwirkung. Sie lagern sich an eine
andere Stelle des Katalysators. Dingermann: "Diese Position ist auch hochspezifisch
für Effektor und Enzym und stellt bezüglich der Oberflächenstruktur die gleichen
Ansprüche." Bindet eine Substanz an das allosterische Zentrum eines Enzyms,
verändert sich die Topologie des aktiven Zentrums. Die Aktivität kann zu- oder
abnehmen. NO-Donatoren, also Prodrugs, die im Laufe der Biokonversion
Stickstoffmonoxid freisetzen, können dieser Gruppe zugeordnet werden. Das
Monoxid aktiviert die lösliche, intrazelluläre Guanylat-Cyclase, indem es die zwei
Untereinheiten dieses Enzyms zusammenführt.
Als problematisch bezeichnete Dingermann, wenn Enzyme durch Pharmaka
ungewollt aktiviert oder inhibiert werden. Dies führe zu Wechselwirkungen und
Unverträglichkeiten. Der Wirkmechanismus entsprechender Arzneistoffe müsse
deshalb genau untersucht werden, um schwere Komplikationen zu verhindern.
Was ist innovativ und bereichert die medikamentöse Therapie? Die Pharmaindustrie
führte in diesem Jahr bislang 33 neue Medikamente auf dem deutschen Markt ein.
Die wirklichen Innovationen lassen sich nach Meinung von Dr. Hartmut Morck
jedoch an einer Hand abzählen. Der Chefredakteur der PZ stellte in Gießen seine
Spitzenkandidaten vor.
Da ist zunächst der erste nicht nukleosidische Reverse-Transkriptase-Hemmer
Nevirapin (Viramune® von Boehringer Mannheim), der inzwischen die
HIV-Therapie bereichert. Das Dipyridodiazepin-Derivat bindet direkt an die
Reverse-Transkriptase und blockiert so das katalytische Zentrum des Enzyms. In
einer kanadischen Studie konnte bei 60 Prozent der Aids-Patienten unter Nevirapin
nach 72 Wochen keine Virus-DNA im Plasma nachgewiesen werden. Neben der
guten Klinik verfügt der RT-Hemmer auch über ein günstiges Resistenzmuster.
Als wirklich innovativ bezeichnete Morck auch Topiramat (Topamax® von Janssen
Cilag). Das Fructosederivat wurde als Add-on-Therapeutikum zur Behandlung von
Epileptikern zugelassen. In seiner chemischen Struktur unterscheide sich das
Arzneimittel grundsätzlich von allen anderen Antiepileptika. Topiramat wirke zudem
über drei verschiedene Mechanismen: Es inaktiviert spannungsabhängige
Natriumkanäle, aktiviert GABA-Rezeptoren und hemmt die glutaminerge
Erregungsleitung. Bei allen anderen Antiepileptika konnten bislang maximal zwei
Wirkkomponenten beschrieben werden.
Auch der neue Leukotrien-Rezeptor-Antagonist Montelukast (Singulair® von
MSD) bereichert nach Meinung Morcks die Asthmatherapie. Das Antiasthmatikum
blockiert die Leukotrien-Rezeptoren in den oberen Atemwegen und bremst so
Entzündungen, Bronchokonstriktion und Schleimsekretion. Die Ergebnisse klinischer
Studien hätten jedoch aufgrund seiner relativ geringen Wirksamkeit für Ernüchterung
gesorgt. Das Medikament könne deshalb die bewährten Glucocorticoide und
Sympathomimetika nicht ersetzen, sondern sei lediglich als Add-on-Therapeutikum
geeignet.
Leider gibt es noch keine vergleichende Untersuchung der beiden
Thrombozytenaggregationshemmer Tirofiban und Abciximab, so Morck. Das neue
Tirofiban (Aggrastat® von MSD), ein nichtpeptisches Tyrosinderivat, das an den
Glykoprotein-IIb/IIIa-Rezeptoren der Thrombozyten bindet und ihr
Zusammenlagern verhindert, stelle aber durchaus eine Alternative zum
Antigen-Präparat dar. Tirofiban ist bislang zur Behandlung einer instabilen Angina
pectoris und des Myokardinfarkts in Kombination mit Heparin und ASS zugelassen.
Rituximab, ein monoklonaler Antikörper, der als Monotherapeutikum gegen
rezidivierende niedrig maligne und follikuläre Non-Hodgkin-Lymphome eingesetzt
wird, bereichert seit 1998 die Palette der Zytostatika. Für Morck eine echte
Innovation. Die Klinik spreche für sich, Rituximab (MabThera® von Hoffmann-La
Roche) stelle zudem einen völlig neuen Therapieansatz dar. Vorteil gegenüber der
Konkurrenz: Mediziner können mit vier Infusionen über 22 Tage ambulant
behandeln. Außerdem ist die Chemotherapie vergleichsweise gut verträglich.
Bleiben nur noch die beiden sogenannten Lifestyle-Drogen, die 1998 mit großem
Erfolg in Deutschland eingeführt wurden. Beim Sildenafil (Viagra® von Pfizer) habe
der Hersteller durchaus geschickt einen Nebeneffekt als Hauptwirkung vermarktet.
Der Phosphodiesterasehemmer sei ursprünglich zur Behandlung der Angina pectoris
entwickelt worden. Untersuchungen hätten dann aber seine mangelnde Wirksamkeit
am Herzen belegt. Die Struktur des Potenzmittels sei auch nicht neu, so Morck, und
verwies in diesem Zusammenhang auf Pentoxyphillin. Morck warnte sein
Auditorium, stets die Risiko-Nutzen-Relation im Auge zu behalten. Durch den
unkritischen Einsatz von Sildenafil und Nitraten sei es alleine in den USA in einem
Vierteljahr zu 77 Todesfällen gekommen.
Kritisch äußerte sich Morck auch zum neuen Lipasehemmer Orlistat (Xenical® von
Hoffmann-La Roche). Aufgrund der unangenehmen Nebenwirkungen wie Durchfall
und Fettstühle seien die Patienten sicherlich nicht besonders compliant. Zusätzlich
könnten fettlösliche Vitamine viel schlechter resorbiert werden. Der Wert dieses
Präparates bliebe in Expertenkreisen nach wie vor umstritten. Immerhin habe die
FDA Orlistat in den USA noch nicht zugelassen.
PZArtikel von Ulrich Brunner und Elke Wolf, Gießen
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de