Pharmazeutische Forschungsvielfaltin Tübingen |
30.11.1998 00:00 Uhr |
Pharmazie
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile; das gilt auch für polymere
Antitumormittel. Diese neue Klasse von Krebstherapeutika entsteht durch die
Bindung eines Zytostatikums an ein hydrophiles Polymer, das als Carrier fungiert.
Ziel ist es, die Arzneistoffe gezielt in die Tumorzellen einzuschleusen und deren
allgemeine Toxizität zu senken. Dieses Modell schlug Professor Dr. Helmut
Ringsdorf von der Universität Mainz erstmals Mitte der siebziger Jahre vor.
Inzwischen laufen klinische Studien in Phase I und II mit Doxorubicin-Polymeren,
berichtete er in Tübingen.
Niedermolekulare Arzneistoffe diffundieren durch Membranen in die Zelle. Ein
Polymer kann die Zelle jedoch nur durch Endozytose betreten. Dieser Prozeß ähnelt
dem Freßvorgang bei Amöben. Das Makromolekül adsorbiert meist an die
Membran, die sich einstülpt, das Polymer in ein Vesikel einschließt und im
Zellinneren freigibt. Dort wird das eingeschleppte kleine Molekül durch lysosomale
Enzyme abgetrennt. Die selektive Aufnahme der Polymere in Tumorzellen kann
erstaunlich hoch sein, und die Polymere haben dort eine lange Verweilzeit, berichtete
Ringsdorf. Dafür wird der EPR-Effekt (enhanced permeability and retention)
verantwortlich gemacht.
Große Moleküle zirkulieren nach intravenöser Applikation wesentlich länger in den
Blutgefäßen als niedermolekulare Stoffe. Die neu gebildeten Blutgefäße eines
Tumors sind im allgemeinen jedoch durchlässiger für Makromoleküle. Außerdem
verfügt Tumorgewebe häufig nicht über eine lymphatische Drainage, so daß sich
eingedrungene Moleküle anhäufen können. Schließlich ist die Endozytoserate im
Tumorgewebe meist erhöht. Man erreicht so bis zu 1000fach höhere
Konzentrationen als mit freien Wirkstoffen. Natürlich muß das Makromolekül klein
genug sein für die renale Ausscheidung.
In klinischer Prüfung befinden sich HPMA-Doxorubicin-Systeme. Das Zytostatikum
ist gebunden an Hydroxypropyl-methacrylamide; es entsteht ein stark
mizellbildendes System mit einem Molekulargewicht von 20000 bis 30000. Das
Polymer wird bevorzugt in die Tumorzelle aufgenommen, wo der Wirkstoff
enzymatisch abgespalten wird. Da die allgemeine Toxizität sinkt, kann man höhere
Dosen applizieren. In den Studien wurden bis zu 320 mg/m² - die übliche Dosis liegt
bei 50 bis 75 mg/m² - gegeben. Ähnlich gute Effekte erzielte man mit
Polymer-gebundenen Platinderivaten.
Ein zellspezifisches Targeting erreicht man durch Anknüpfen weiterer Moleküle, zum
Beispiel Galaktose, die mit Rezeptoren auf Leberzellen interagiert. Dieses Molekül
bringt seine Doxorubicin-Fracht zum großen Teil in Leberzellen ein. Auch hiermit
laufen Phase-I/II-Studien.
Was haben Eibe, Schwämme, eine Korallenart und Myxobakterien gemeinsam? Sie
produzieren die vier derzeit bekannten Naturstoffe, die die Mikrotubuli während der
Zellteilung so stabilisieren, daß die Mitose (Kernteilung) unterbrochen und die Zelle
in den Tod durch Apoptose getrieben wird. Taxol ist die prominenteste Substanz,
die weiteren sind Eleutherobin, Discodermolide und die Epothilone, berichtete
Professor Dr. Gerhard Höfle von der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung
in Braunschweig.
Myxobakterien produzieren viele antifungische Stoffe, die meist auch cytotoxisch
wirken, unter anderem Disorazol, Ratjadon, Chondramid und Epothilone. Dieser
Name setzt sich zusammen aus den wichtigsten Strukturmerkmalen des Makrolids:
Epoxid, Thiazol und Keton. Ende 1995 wurde die absolute Konfiguration aufgeklärt
und Synthesechemikern zugänglich gemacht. Die Abbildung 1 zeigt die
Röntgenstruktur. Heute ist eine ganze Reihe von Totalsynthesen veröffentlicht.
Hauptprodukte des bakteriellen Polyketid-Stoffwechsels sind Epothilon A und B,
die sich nur durch eine Methylgruppe am Epoxidring unterscheiden. Durch eine
natürliche Fehlerrate des Schlüsselenzyms, der Polyketid-Synthase, entstehen
zahlreiche strukturell geringfügig veränderte Nebenprodukte. Die cytotoxisch
aktivste Substanz ist jedoch das methylierte Epothilon B (IC50 0,2 ng/ml). Im
Screening am National Cancer Institute wirkte es selektiv gegen Zellen aus Brust-
und Dickdarmtumoren.
Die Hoffnung, das Molekül wegen seiner gegen Oomyceten gerichteten antifungalen
Wirkung zur Bekämpfung der Knollenfäule der Kartoffel einsetzen zu können,
erlosch bald: Es wirkt phytotoxisch und somit herbizid.
Epothilon B hat gegenüber dem Eibenstoff mehrere Vorteile: Es stabilisiert die
Mikrotubuli schneller und in geringeren Konzentrationen (Abbildungen 2 und 3).
Außerdem wirkt es gegen Taxol-resistente Zellinien und sogar solche mit mutiertem
ß-Tubulin-Gen. Es ist etwa 30mal besser wasserlöslich und durch Fermentation
nahezu unbegrenzt herstellbar. Wo viel Licht ist, gibts auch Schatten: Epothilon B
hat nach Ergebnissen von S. Danishefsky eine geringere therapeutische Breite als
Taxol - Grund genug für die Chemiker, nach besseren Derivaten zu suchen. Hier ist
ein Forschungswettlauf entbrannt, berichtete Höfle.
Doch fast alle Abwandlungen zerstören die Wirksamkeit, konstatierte der
organische Chemiker und zeigte eine Fülle von trickreichen Eingriffen in das
komplexe Molekül. Die einzigen Struktur-elemente, die ohne großen Wirkverlust
modifiziert werden können, sind der 2-Methylthiazolring und das Epoxid. Beide
Methylgruppen können dort gegen Ethyl- oder maximal Propylgruppen getauscht
werden. Das Thiazol kann durch Oxazol ersetzt und das Epoxid in ein Episulfid
verändert werden. Veränderungen am 16-gliedrigen Lactonring oder gar Spaltung
des Lactons führen zu umwirksamen Molekülen.
Allen chemischen Bemühungen zum Trotz hat die Natur den aktivsten Wirkstoff
offenbar bereits selbst gefunden. Dennoch war Höfle optimistisch, daß erste
klinische Studien mit einem zwar weniger aktiven, aber besser verträglichen Derivat
im nächsten oder übernächsten Jahr beginnen können.
Freies Calcium ist der wichtigste intrazelluläre Signalstoff. Seine Konzentration im
Zellinneren - 100 nmolar - ist etwa 10 000fach geringer als extrazellulär. Professor
Dr. Walter Müller aus Frankfurt stellte in Tübingen eine aktuelle Hypothese vor: Die
Veränderung der freien Calcium-Konzentration in der Zelle soll eine wichtige Rolle
spielen für die normale Hirnalterung, aber auch bei der Alzheimer-Demenz.
Tatsächlich ist die freie Calcium-Konzentration in alternden Neuronen eher
erniedrigt; jedoch sind die Zellen empfindlicher für Veränderungen des
Calcium-Spiegels. Dies konnte Müller in eigenen Untersuchungen an
Humanlymphozyten und -granulozyten sowie an Hirnzellen von Ratte und Maus
nachweisen. Möglicherweise regulieren alternde Zellen die intrazelluläre
Calcium-Konzentration auf ein niedrigeres Niveau herunter, da sie weniger
Kapazität zur Feinregulierung haben.
An Granulozyten und Lymphozyten von fünfzig Alzheimer-Patienten und einer
Kontrollgruppe gesunder älterer Menschen untersuchte die Arbeitsgruppe, ob die
Calcium-Signale bei Demenzpatienten grundsätzlich verändert sind. Hinsichtlich der
freien Calcium-Konzentra-tion - auch nach Stimulation - gab es keine größeren
Unterschiede zwischen Zellen von dementen und alten Menschen. In Lymphozyten
dementer Patienten stieg jedoch das Calcium-Signal nach Stimulation langsamer an
(verzögerte Antwort). Anders bei Patienten mit vaskulär bedingter Demenz: Das
Signal kam nicht verzögert.
Man spekuliert, so Müller, daß eine Zelle mit Calcium-Werten unterhalb der Norm
bei Verletzung eher mit Apoptose, bei hohen Spiegeln jedoch mit Nekrose reagiert.
Verglich man Lymphozyten von Patienten mit Alzheimer- oder vaskulärer Demenz
mit denen alter Menschen, so fand man in der Alzheimer-Gruppe wesentlich mehr
apoptotisch gezeichnete Zellen. Nach experimentell erzeugtem oxidativen Streß stieg
die Apoptose-Rate deutlich an. Dies beweise aber noch keine Kausalität mit den
Calcium-Konzentrationen, gab Müller zu bedenken.
Auch der Effekt genetischer Mutationen auf das Calcium-Signal läßt sich
experimentell nachweisen. Dazu bedient man sich transgener Mäuse, die das
Präsenilin-1-Gen tragen, entweder als Wildtyp oder mit ein- oder mehrfacher
Mutation. Dieses Gen löst im Träger quasi im Zeitraffer die Alzheimer-Demenz aus;
die Menschen erkranken relativ jung. In Lymphozyten von Mäusen, die ein
besonders "bösartiges" Gen tragen, trat das Calcium-Signal nach Stimulation deutlich
verzögert ein. Mit Einzelzellmessungen will man im Frankfurter Institut nun der Frage
nachgehen, ob alle Lymphozyten eines Alzheimer-Patienten gleich reagieren oder ob
nur einzelne Zellen verändert sind.
Nicht immer sind alte Arzneistoffe obsolet, manche sorgen immer wieder für
Überraschungen. Das gilt auch für den ersten schwermetall-freien synthetischen
Wirkstoff Suramin. Nach wie vor wird es zur Therapie der Schlafkrankheit und der
Flußblindheit eingesetzt; zudem wurde es als Leitstruktur für neue
Antitumorsubstanzen und als Antagonist am P2-Purinozeptor erkannt.
Lebensraum für das "Volk ohne Raum" erhoffte man sich im Deutschland der
Jahrhundertwende von den Kolonien. Das politische Motiv spornte Forscher wie
Paul Ehrlich an, auch nach Medikamenten gegen Tropenkrankheiten zu suchen. Mit
Trypanrot fand man erstmals einen Stoff, der mit Trypanosomen infizierte Mäuse
heilen konnte. Die Erreger Trypanosoma gambiense und rhodesiense werden durch
die Tsetse-Fliege übertragen und lösen die Schlafkrankheit aus (Abbildungen 4 und
5).
Die weitere Entwicklung in den Bayer-Laboratorien führte zum Suramin, das 1920
unter Geheimhaltung der Struktur in den Handel kam (Bayer 205, Germanin®).
Bereits nach vier Jahren wurde die Strukturformel des komplexen
Diphenylharnstoffs veröffentlicht - eine großartige Forschungsleistung, wie Professor
Dr. Peter Nickel aus Bonn beim DPhG-Kongreß betonte.
1947 erkannte man, daß mit Suramin auch die Flußblindheit (Onchozerkose)
behandelt werden kann. Bis heute ist Suramin der einzige Wirkstoff zur Heilung
dieser tropischen Wurmerkrankung. Trotz intensiver Suche im Rahmen eines
WHO-Programms von 1976 wurde keine effektivere Substanz gefunden, berichtete
Nickel von eigenen Forschungen. Dafür konnte man den Wirkmechanismus klären:
Das Molekül hemmt Enzyme des Glucosestoffwechsels.
Spannend wurde es 1979 - also vor der Zidovudin-Ära -, als sich Suramin als
potenter Inhibitor der Reversen Transkriptase in RNA-Viren entpuppte. In vitro
zeigten sich deutliche Struktur-Wirkungsbeziehungen der Analoga, doch in vivo
folgte die Enttäuschung: Das Molekül ist viel zu toxisch für eine Langzeitanwendung.
1990 wurde das alte Germanin zum Prototyp einer neuen Generation von
Antitumorstoffen. Es hemmt selektiv bestimmte Wachstumsfaktoren und die
Gefäßneubildung (Angiogenese) in Tumoren. Ohne Blutversorgung sterben Tumoren
ab und können vor allem nicht metastasieren. Im Screening mit mehr als 200
Analoga waren einige Derivate mit Sulfon- oder Phosphonsäureresten relativ gut
wirksam. Suramin wird heute als wichtige Leitstruktur für Angiogenese-Hemmstoffe
angesehen, resümierte Nickel.
Damit ist das Potential nicht erschöpft. 1988 wurde der Arzneistoff als reversibler
Antagonist am P2-Purinozeptor beschrieben. An diesen Rezeptor, von dem man
heute mehrere Subtypen kennt, binden die endogenen Phosphate ATP und ADP.
Viele "alte" Sulfonsäure-Farbstoffe entpuppten sich als P2-Antagonisten. Die
Suramin-Analoga NF 023 und NF 279 binden relativ selektiv an den Subtyp P2x .
Da P2-Rezeptoren an vielfältigen Funktionen im Körper beteiligt sind, ergeben sich
diverse potentielle Indikationen für die Antagonisten: Blaseninkontinenz, Hypertonie,
Thrombose, Schmerz, Magen-Darmstörungen wie Durchfall und Verstopfung. Ganz
neu sind Befunde, die einen Einsatz als lokales Kontrazeptivum möglich erscheinen
lassen.
Die Diskussion um die Fluorchlorkohlenwasserstoffe und die Probleme mancher
Patienten mit Dosieraerosolen haben Technologen und Techniker auf den Plan
gerufen. Die ersten Pulverinhalatoren wurden in den siebziger Jahren entwickelt und
bieten eine Alternative zu den schon 1955 erfundenen Dosieraerosolen. Sie erlauben
auch den Patienten, die Sprühstoß und Atmung nicht richtig koordinieren können,
eine korrekte Anwendung.
Die gängigen Modelle sind entweder Mehrdosen-Einmalgeräte, die nach
Aufbrauchen der Wirkstoffmenge weggeworfen werden, oder wiederbefüllbare
Einzeldosis-Systeme. Ziel der Industrie war es, ein Multidose-Device zu entwickeln.
Dr. Elisabeth Wolf-Heuss, Leiterin der Pharmazeutischen Entwicklung bei Asta
Medica, stellte in Tübingen den Anforderungskatalog vor. Das wiederbefüllbare
Mehrdosenbehältnis soll die Restdosis und das korrekte Inhalieren anzeigen, für
verschiedene Arzneistoffe und Arzneistoffmengen geeignet sein, einen hohen
inhalierbaren Anteil an Pulverpartikeln erzeugen, handlich klein und weltweit
zulassungsfähig sein - und nicht zuletzt einen konkurrenzfähigen Preis haben.
Der entwickelte Pulverinhalator erreichte in einer Untersuchung mit
Budesonid-Befüllung eine hohe Lungendeposition von 30 Prozent der Dosis bei
einem Inhalationsstrom von 90 l/min. Die Deposition sei nicht abhängig vom
Inhalationsstrom, betonte Wolf-Heuss. Bei gleicher inspiratorischer Anstrengung
erreichten mehr Teilchen die Lunge als bei einem handelsüblichen Vergleichsgerät.
Nach aktuellem Recht gilt der Inhalator als Medizinprodukt der Klasse 1 und trägt
ein CE-Zeichen.
Auf dem Gebiet des Drug-delivery in die Lunge wird viel geforscht. In
Phase-II-Studien befinden sich Systeme mit Insulin, Calcitonin und Parathormon
sowie mit Morphin und Fentanyl. Die Gentherapie via Lunge ist noch im
präklinischen Stadium.
PZ-Artikel von Brigitte M. Gensthaler, Tübingen
© 1997 GOVI-Verlag
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