Phytopharmaka haben Zukunft |
05.10.1998 00:00 Uhr |
Pharmazie
Bei Extrakten der dritten Gruppe kann ein anderer Inhaltsstoff als Leitsubstanz für
die Qualitätskontrolle der einzelnen Herstellungsstufen eingesetzt werden. Anhand
von Leitsubstanzen können jedoch Fertigpräparate unterschiedlicher Hersteller nicht
verglichen werden, da diese meist nur auf das Einzelprodukt bezogen sind und nicht
in der Deklaration auftauchen dürfen.
Konsens bei Bewertung der Wirksamkeit schwieriger
Wesentlich schwieriger ist es, in Fachkreisen einen Konsens zur Methodik für die
Beurteilung der Wirksamkeit eines Phytopharmakons zu finden. Hier stehen
pharmakologisch-klinische Fundamentalisten, die nur Doppelblindstudien nach
modernstem Design als Beweis der Wirksamkeit akzeptieren und alles
Erfahrungswissen kategorisch ablehnen, Pragmatikern gegenüber, die die
Erfahrungen ganzer Ärztegenerationen, so sie ausreichend dokumentiert und kritisch
bewertet sind, als ausreichend ansehen.
Letztere haben einen Teilerfolg errungen. Erfahrungsmaterial wurde durch staatliche
Gremien wie die Kommission E sorgfältig gesichtet, beurteilt und fand seinen
Niederschlag in etwa 400 amtlichen Indikationsmonographien für Einzeldrogen.
Weitere 56 Einzelmonographien wurden von der European Scientific Cooperative
on Phytotherapy (ESCOP) und bislang eine von der europäischen
Zulassungsbehörde EMEA erarbeitet. An einer europäischen Harmonisierung wird
gearbeitet. Der Hinweis auf diese amtlichen Dokumente gekoppelt mit einer
Literaturrecherche, die nachweist, daß sich seit Verkündung der Monographie keine
neuen Aspekte ergeben haben kann zumindest in Deutschland ein ausreichender
Nachweis von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sein.
Pharmakologische Modelle wenig aussagekräftig
Verworrener ist dagegen die Ausgangslage bei den Kombinationsarzneimitteln.
Mehrarmige klinische Doppelblindstudien als Mittel der Wahl werden wegen des
hohen Anteils der selbstmedizierenden Patienten, der langen Überwachungsdauer
und der vielfach in keinem Verhältnis zum Ertrag stehenden Prüfkosten nur selten
durchgeführt. Ein Bewertungsschema, das auch in abgestufter Weise das publizierte
Erfahrungsmaterial berücksichtigt, ist derzeit in der Diskussion (siehe Kasten, Seite
88). Doppelblindstudien haben in diesem Schema die höchste, pharmakologische
Modelle die niedrigste Aussagekraft. Es existieren zahlreiche Publikationen, meist
von niedergelassenen Ärzten, in denen gut dokumentierte Einzelfallbeschreibungen
als bereits ausreichend angesehen werden.
Ein Konsens zur Vorgehensweise bei der Bewertung der Unbedenklichkeit ist noch
nicht in Sicht. Relativ wenige, meist unzureichende Daten sind verfügbar.
Andererseits wurden nach Phytopharmaka-Einnahme bisher selten schwerwiegende
Neben- oder Wechselwirkungen gemeldet. Bedenken resultieren meist daraus, daß
toxikologische Daten, die mit einer im Extrakt vorhandenen Reinsubstanz in
unphysiologisch hoher Dosierung an Zellkulturen oder Nagern gewonnen wurden,
extrapoliert und überinterpretiert wurden. Relevanter sind dagegen Meldungen, die
über das in europäischen Richtlinien festgelegte Meldesystem den Hersteller
erreichen.
Die bisher angeführten Gesichtspunkte betreffen vor allem die Aufarbeitung der
derzeit im Markt befindlichen Phytopharmaka. Ein Prozeß, der trotz gegenteiliger
Beteuerungen vieler nationaler Zulassungsbehörden noch lange nicht abgeschlossen
ist.
Eine gewisse Sonderstellung nehmen in Deutschland Arzneimittel ein, die nach den
Bestimmungen des AMG § 109 und 109a als traditionell gelten und für den Verkauf
außerhalb der Apotheken freigegeben sind. Für sie gelten erleichterte Anforderungen
an den Qualitäts- und Wirksamkeitsnachweis. Die in der Pakkungsbeilage
aufgeführten Anwendungsgebiete enthalten grundsätzlich den Zusatz: »Traditionell
angewendet bei ...«.
Pflanzen lassen sich nicht patentieren
Im Gegensatz zu neuen Synthetika sind Pflanzenextrakte kaum patentierbar und
stellen somit ein erhöhtes Marktrisiko für die Pharmaunternehmen dar. Bei
erfolgreichen Neueinführungen erscheinen meist schon in weniger als einem Jahr
Nachahmerpräparate auf dem Markt, was die Investitionsfreude in neue
Phytopharmaka nicht unbedingt steigert.
Wie sinnvoll ist daher heute noch die Neu- und Weiterentwicklung allopathischer
Arzneimittel auf pflanzlicher Basis? Ist eigentlich noch Bedarf? Die Antwort kann nur
positiv ausfallen. Phytopharmaka werden vor allem bei Indikationen eingesetzt, die
schon aus eigener Erfahrung des Patienten heraus ohne Zutun des Arztes behandelt
werden können. Dazu gehören Erkältung, Grippe, Schnupfen, Sportverletzungen,
Magenbeschwerden und andere. In diesem Zusammenhang ist das Ergebnis einer
1997 vom Demoskopieinstitut Allensbach durchgeführten Patientenbefragung zur
Akzeptanz von Naturheilmitteln nicht überraschend (12). Danach hält der Trend zu
Arzneimitteln auf pflanzlicher Grundlage an. Patienten suchen auch nach pflanzlichen
Alternativen, wenn synthetische Substanzen wenig effektiv oder mit zu vielen
Nebenwirkungen behaftet sind. Dazu gehören Prostatahyperplasie,
Wechseljahrsbeschwerden und Durchblutungsstörungen.
Ein drittes Plus für Phytopharmaka: Die Neuentwicklung eines pflanzlichen
Präparates ist in der Regel preiswerter als die eines synthetischen Arzneimittels. Die
Erfolgsaussichten bei der Findungsforschung sind größer und lassen sich meist in
kürzeren Zeiträumen realisieren. Die Nicht-Patentfähigkeit läßt sich mitunter durch
Fertigungsbesonderheiten und eventuell durch Indikationspatente umgehen.
Gesamteuropäisches Konzept für Phytopharmaka
Problematisch sind nach wie vor die europäischen Rahmenbedingungen. Obwohl im
Bereich der Arzneimittelzulassung für Phytopharmaka vielversprechende Ansätze
erarbeitet wurden und ein erfreuliches Maß an Homogenität bereits erreicht ist,
bestehen noch immer erhebliche Divergenzen in den ökonomischen
Rahmenbedingungen, insbesondere was Preise und die Erstattungsfähigkeit im
jeweiligen Gesundheitssystem angeht. Die teilweise erheblich einschränkende
einzelstaatliche Reglementierung muß beschnitten und durch ein gesamteuropäisches
Konzept ersetzt werden.
Neue Phytopharmaka werden künftig vorwiegend von der Industrie entwickelt, und
hier nur in Firmen mit entsprechendem Jahresumsatz. Eine Nische bleiben aber auch
weiterhin die Hausspezialitäten der Apotheken. Der Zugriff auf etwa 25 000
Standardzulassungen bietet ihnen in der Bundesrepublik dazu ein breites
Betätigungsfeld.
Der Trend zur individuellen Rezeptur durch den Arzt nimmt sichtbar zu, da in diesem
Fall die starren Regeln der Zulassung nicht greifen. Kompendien wie das von
Schilcher, untermauert mit Seminaren der Verbände wie dem Zentralverband der
Ärzte für Naturheilverfahren, erleben derzeit Hochkonjunktur. Die dort vermittelten
Rezepturarzneimittel sind teilweise erheblich preiswerter als industriell gefertigte
Synthetika und vor allem zu 100 Prozent erstattungsfähig. Falls sich dieser Trend
weiter verstärken sollte, dürften auch die nächsten Generationen noch von den
Erfahrungen mit der Materia medica botanica profitieren.
Literatur
(1) Thiele, A., Beckmann, J., Pharm. Ztg. 143, Nr. 6 (1998) 44 - 46.
(2) Schilcher, H., Dtsch. Apoth. Ztg.138 (1998) 144 - 149.
(3) Cranz, H., Pharm. Ind. 60 (1998) 85 - 89.
(4) Institut für medizinische Statistik, IMS-Datenbank 1998.
(5) Walluf-Blume, D., Pharm. Ztg. 143, Nr. 6 (1998) 396 - 399.
(6) Gawrich, S., Pharm. Ztg. 142 (1997) 4482 - 4486.
(7) Harnischfeger, G., Qualitätskontrolle von Phytopharmaka, Thieme Stuttgart 1985.
(8) Schilcher, H., Arzneimittelstandardisierung 6 (1965) 649 - 655.
(9) Arzneimittelprüfrichtlinien, Bundesanzeiger 47, Nr. 96a, 20.05.1995.
(10) Harnischfeger, G., et al., Pharm. Ind. 4 (1983) 793 - 795.
(11) Menßen, H.G., Pharm. Ztg. 114 (1969) 1521 - 1525.
(12) Inst. für Demoskopie Allensbach, Dtsch. Apoth. Ztg. 137 (1997) 658 - 662.
(13) Zündorf, I., Dingermann, T., Dtsch. Apoth. Ztg. 137 (1997) 3107 - 3118.
PZ-Artikel von Götz Harnischfeger, Salzgitter
© 1997 GOVI-Verlag
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