Harmonisierung und noch mehr gute klinische Daten |
16.09.2002 00:00 Uhr |
von Ilse Zündorf, Barcelona
Über 600 Teilnehmer lockte die 50. Jahrestagung der Gesellschaft für Arzneipflanzenforschung (GA) nach Barcelona. Das straff organisierte Programm, das die GA gemeinsam mit der jungen spanischen Gesellschaft für Phytotherapie (Sociedad Española de Fitoterapia, SEFIT) geplant hatte, stand ganz im Zeichen der Arzneipflanzenforschung. Einen zusätzlichen Schwerpunkt bildeten Inhaltsstoffe mariner Organismen.
Aus ungefähr 70 verschiedenen Ländern reisten Wissenschaftler an, um in 575 wissenschaftlichen Beiträgen über komplexe Stoffgemische der Naturprodukte, ihre pharmakologische Wirkung, klinische Forschung oder internationale Regularien zu Phytopharmaka zu diskutieren. Gerade durch die Internationalität wurde eines deutlich: Obwohl es an und für sich unstrittig ist, dass Arzneipflanzen wichtige Ausgangsmaterialien für rationale Therapieformen darstellen, werden sie in verschiedenen Ländern doch sehr unterschiedlich bewertet. Die Spanne reicht dabei von Phytopharmaka der rationalen Therapie bis hin zu Nahrungsergänzungsmitteln ohne jeglichen therapeutischen Anspruch.
Es sei noch mehr Forschungsarbeit nötig, damit pflanzliche Arzneistoffe wirklich ein fester Bestandteil der rationalen Medizin werden, betonte Professor Dr. Hildebert Wagner von der Universität München in seinem Plenarvortrag. Nach wie vor sind nur bei sehr wenigen Arzneipflanzenextrakten die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe bekannt. Und nach wie vor mangelt es bei den unterschiedlichen Extrakten an harten Qualitätskriterien.
Der Egon-Stahl-Preis Aus Anlass seines 60. Geburtstages stiftete Professor Dr. Dr. h. c. mult. Egon Stahl eine Plakette mit Urkunde, verbunden mit einem Geldpreis, zur Anerkennung und Förderung jüngerer Wissenschaftler aus dem Bereich der Pharmakognosie (Pharmazeutische Biologie) und Analytischen Phytochemie. Der Egon-Stahl-Preis wird in Gold, Silber oder Bronze verliehen.
Den diesjährigen Egon-Stahl-Preis in Silber erhielt Frau Dr. Anna Rita Bilia aus Florenz in Anerkennung ihrer wertvollen Beiträge zur Pharmakognosie und analytischen Phytochemie, und vor allem für ihre außergewöhnlichen und innovativen interdisziplinären Untersuchungen zur Qualitätskontrolle von Phytopharmaka.
Der Präsident der Gesellschaft, Professor Dr. Rudolf Bauer, Düsseldorf, hob in seiner Laudatio neben den zahlreichen Strukturaufklärungen besonders die Verwendung von Biosensoren zur Qualitätskontrolle sowie ihre Arbeiten zur Verbesserung der Bioverfügbarkeit von Phytopharmaka über Liposomen, Mizellen und Cyclodextrin-Mikroverkapselungen hervor. Bilia ist Mitglied im wissenschaftlichen Komitee der ESCOP und Ausschussmitglied der italienischen Gesellschaft für Phytochemie.
Professor Dr. Gerhard Franz, Universität Regensburg, teilte die Inhaltsstoffe der komplex zusammengesetzten Extrakte grob in Gruppen ein: Effektoren, Coeffektoren, Markersubstanzen, inerte Substanzen, Allergene und Toxine und schließlich Cellulose und Lignin. Diesen Gruppen müsse in der Qualitätssicherung der Arzneipflanzen und vor allem der Extrakte Rechnung getragen werden. Mit dem Europäischen Arzneibuch, das 2002 in seiner vierten Auflage erschien, liegen inzwischen Monographien zu 1937 Wirkstoffen vor. Davon behandeln 137 Monographien Arzneipflanzen, allerdings nur acht Pflanzenextrakte beziehungsweise Tinkturen. Dies müsse dringend geändert werden, betonte Franz. Schließlich sei nicht die Arzneipflanze, sondern der daraus gewonnene Extrakt der Wirkstoff.
Nach dem Europäischen Arzneibuch lassen sich drei Extrakt-Qualitäten unterscheiden: Der standardisierte Extrakt wird auf die aktiven Inhaltsstoffe eingestellt und gegebenenfalls mit inertem Material ohne therapeutische Aktivität verdünnt. Demgegenüber wird der quantifizierte Extrakt mit entsprechend niedriger dosiertem Extrakt auf den gewünschten Wirkstoffgehalt eingestellt. Eine weitere Qualität stellt der Spezialextrakt dar, der sich über seine pharmakologische Wirkung definiert. Ein großes Problem sieht Franz darin, wer eigentlich die Entscheidung darüber fällt, in welche Kategorie ein Extrakt eingeordnet werden soll und welche Inhaltsstoffe in welchen Grenzen in den Monographien aufgelistet werden müssen. Als Beispiel nannte er einen Johanniskraut-Trockenextrakt, bei dem der Hypericin-Gehalt in einer Spanne angegeben wird, bei dem es allerdings fraglich ist, ob auch das wesentlich instabilere Hyperforin enthalten sein muss.
Harmonisierung tut Not
Nicht nur die Einstufung der Arzneipflanzen und der daraus gewonnenen Produkte sollte weltweit vereinheitlicht werden, sondern idealerweise auch die Qualitätsstandards. In Europa arbeitet man bereits daran: 1989 wurde in Köln die European Scientific Cooperative on Phytotherapy (ESCOP) als Dachorganisation der nationalen Gesellschaften gegründet. Sie erstellt seitdem Monographien zu wichtigen Arzneipflanzen und den daraus gewonnenen Präparaten.
In eine ähnliche Richtung zielt das „Traditional Medicine Programme“ (TRM) der WHO, in dem ein Muster-Dokument mit dem Titel „Model Monographs of Widely used Medicinal Plants“ erarbeitet wurde. Letztlich zulassungsrelevant könnte das neue „Committee for Herbal Medicinal Products“ an der Europäischen Zulassungsbehörde EMEA werden. Dies solle dann sowohl Arzneipflanzen der rationalen als auch der traditionellen Therapierichtung bewerten, erklärte Dr. Barbara Steinhoff, Bundesfachverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) in ihrem Workshop.
Eine europaweite Harmonisierung scheint also in greifbarer Nähe. Von einem internationalen Konzept ist man dagegen noch weit entfernt. Dies zeigt bereits der Vergleich mit dem US-amerikanischen Arzneibuch (USP). Hier seien „Botanicals“ noch bei weitem nicht mit den nötigen Daten zur Qualität und Wirksamkeit vertreten, bemerkte Dr. David Roll.
Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit
Hersteller müssen auch im Rahmen der Zulassung von Phytopharmaka die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit belegen. Qualität und Unbedenklichkeit sollten über geeignete, sensitive Messmethoden und realistische Grenzwerte in den Monographien verankert werden. Geeignete Testmethoden für ein Qualitätsscreening sind bereits vorhanden. Dies zeigte einerseits ein großer Teil der präsentierten Poster, aber auch verschiedene Plenarvorträge
Die Qualitätssicherung von Pflanzenmaterial, Extrakten und Fertigarzneimitteln lässt sich häufig mit der einfach anzuwendenden Dünnschichtchromatographie realisieren. Ein eigens darauf ausgerichteter Workshop unter der Leitung von Professor Dr. Beat Meier aus Romanshorn in der Schweiz demonstrierte sehr eindrücklich, dass der direkte Vergleich auf einem Dünnschicht-Chromatogramm die Instabilität eines Pflanzenextraktes zeigen kann. Allerdings entsteht dadurch ein neues Problem: Ab wann ist die Degradation des Inhaltsstoffs in einem Arzneipflanzenextrakt relevant für die Wirksamkeit oder schlimmstenfalls sogar die Toxizität eines Extraktes?
50 Jahre GA Die GA wurde am 8. April 1953 in Bad Camberg im Taunus (Deutschland) von einer kleinen Gruppe von Ärzten, Pharmazeuten und pharmazeutischen Biologen gegründet, deren gemeinsames Interesse der Arzneipflanzenforschung galt. Der erste Präsident, Dr. med. Ernst Meyer, gab der Gesellschaft den Namen "Deutsche Gesellschaft für Arzneipflanzenforschung und -therapie". Ziel war die Verbreitung und Förderung wissenschaftlicher Fragen auf dem Sektor der Arzneipflanzen einschließlich Forschung, Produktion, Anbau, Züchtung und Therapie. Mittlerweile hat die GA 1023 Mitglieder aus 50 Ländern. Am 8. April 2003 wird die GA ein Symposium anlässlich des 50. Geburtstages der Gesellschaft in Bad Camberg ausrichten unter dem Titel: 50 Jahre GA – Geschichte und Zukunft der Arzneipflanzenforschung.
Der Nachweis der Wirksamkeit macht bei den Phytopharmaka nach wie vor Probleme, da nur sehr wenige aussagekräftige klinische Studien zu Arzneipflanzenextrakten vorliegen. Dies liege nicht zuletzt an der Komplexizität der Gemische, legte Dr. Bruno Gianetti, CRM, Bonn, in seinem Plenarvortrag dar. Während chemisch-synthetische Wirkstoffe bereits mit klar definierten Wirkprinzipien in klinische Studien eintreten, sind Wirkungen der Herbal medicinal products (HMP) zunächst oft nur sehr vage definiert. Giannetti forderte daher, wesentlich stärker in präklinische Untersuchungen zu investieren. Zudem seien längere klinische Studien mit sensitiveren Testmethoden nötig, um den gewünschten Effekt deutlich zeigen zu können. Nur so ließen sich valide Daten zur Pharmakologie der HMP erheben.
Einen Schritt in diese Richtung zeigte Professor Dr. Wolfgang Wuttke von der Universitäts-Frauenklinik in Göttingen mit seinen Untersuchungen zu den Phytestrogenen. Nachdem die in den USA groß angelegte Studie zur Hormonersatztherapie auf Grund unerwünschter Effekte abgebrochen wurde, liegt ein verstärktes Augenmerk auf den Phytestrogenen. Die bisher hoch gelobten Wirkstoffe aus Soja konnten den Erwartungen nicht entsprechen, allerdings zeigen Extrakte des Traubensilberkerzen-Wurzelstocks, Cimicifuga racemosa, im Tierversuch und in ersten klinischen Untersuchungen die Effekte eines selektiven Estrogenrezeptor-Modulators (SERM) mit positiven Wirkungen auf klimakterische Beschwerden, Knochendichte und das Herzkreislaufsystem. Die unerwünschten Wirkungen auf Uterus und Brustdrüse blieben aus.
Tee gegen Diabetes
Die zahlreichen Poster, die in Barcelona präsentiert wurden, geben einen Vorgeschmack auf die Präparate, die sich vielleicht in zehn Jahren auf dem Markt tummeln werden: So soll eine Tasse Tee aus Eukalyptus oder der Gartenbohne (Phaseolus vulgaris) die Resorption von Glucose aus der Nahrung verhindern, indem die a-Amylase inhibiert wird. Ähnliches könnte auch mit einem Extrakt aus dem Riedgrasgewächs Cyperus rotundus oder des Zitruspflanze Murraya koenigii gelingen, glaubt man den Ausführungen der verschiedenen Arbeitsgruppen. Immer mehr Forscher wagten sich an „heiße“ therapeutische Themen. Neben den großen Gruppen der antiinflammatorisch, zytostatisch, antibakteriell oder antimykotisch wirksamen Extrakte und Inhaltsstoffe suchen sie mit Hilfe verschiedenster Zellsysteme und enzymatischer Assays nach potenziellen Medikamenten gegen Morbus Alzheimer, HIV-Infektionen, Malaria, Leishmaniose oder erektile Dysfunktion. Bemerkenswert: Inzwischen stehen nicht nur sehr viele unterschiedliche biologische Testsysteme zur Verfügung, sondern auch zahlreiche Arzneipflanzen und daraus gewonnene Extrakte. Wie viele davon letztlich nach klinischen Studien übrig bleiben, wird die Zukunft zeigen.
Neben den Landpflanzen liefern auch die marinen Lebewesen ein schier unerschöpfliches Repertoire an interessanten Wirkstoffen, getreu dem Motto „Nature distributed medicine everywhere“. Wie erfolgreich die Suche nach interessanten Inhaltsstoffen gerade bei marinen Organismen ist, zeigten die Plenarvorträge von Professor Dr. William Fenical, Dr. José Jimeno und Professor Dr. Jun’ichi Kobayashi sowie Kurzvorträge und Posterbeiträge aus der Arbeitsgruppe von Professor Dr. Gabriele König.
Täglich einen Liter Rotwein
In den seltensten Fällen lässt sich eine beobachtete Wirkung wirklich molekular begründen. Eine Erklärung für die Tatsache, dass die Franzosen trotz reichlichem und gutem Essen seltener an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben, könnte in den Polyphenolen des Rotweins liegen. Immerhin sind diese in der Lage, die Expression der endothelialen NO-Synthase zu verstärken. Dies führe letztlich zur Freisetzung des vasoprotektiven Stickstoffmonoxids, erläuterte Dr. Verena Dirsch aus der Arbeitsgruppe von Professor Dr. Angelika Vollmar, Universität München. Rechnet man allerdings die im Zellsystem für eine Wirkung nötigen Konzentrationen an Polyphenolen auf den menschlichen Körper hoch, dann lautet die Empfehlung: täglich ein Liter Rotwein. In-vitro-Bedingungen lassen sich eben nicht so einfach auf die Situation im menschlichen Körper hochrechnen.
Trotz der vielen interessanten Einblicke während der 50. Jahrestagung bleibt ein Wermutstropfen: Die Organisatoren legten zu viel Wert auf die Plenarvorträge. Damit blieb zu wenig Zeit für das Studium der Poster von Nachwuchswissenschaftlern. 250 Posterpräsentationen lassen sich kaum in 150 Minuten bewältigen. Die Aussicht auf einen Preis verleitete außerdem manchen Wissenschaftler dazu, sein Poster eher als „Eyecatcher“ denn als wissenschaftlichen Beitrag zu konzipieren.
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