Pharmazie
Zahlreiche epidemiologische Unterschungen belegen, daß Alkoholismus,
zumindest bei männlichen Erwachsenen, die häufigste psychische Störung
darstellt. Wenigstens 2,5 Millionen Alkoholkranke gibt es allein in der
Bundesrepublik Deutschland. Während die neuropsychiatrischen
Folgeschäden des Alkoholismus seit langem bekannt sind, wurden erst in
den letzten Jahren neuro- und molekularbiologische Untersuchungen zur
Frage alkoholbedingter Wirkungen und Veränderungen im ZNS sowie zu
Alkoholverlangen (Craving) und Rückfall durchgeführt.
Wichtige Neurotransmittersysteme, die durch Alkohol beeinflußt werden, sind in
erster Linie Dopamin, Serotonin, GABA und Glutamat. Ein Teil der psychotropen
Effekte von Alkohol wird zumindest indirekt über die Interaktion mit dem
mesolimbischen Dopamin-System vermittelt, aber auch über Opiatrezeptoren.
Speziell für Craving, aber auch für neuropsychiatrische Folgeschäden wird im
übrigen eine Dysfunktion im Glutamatsystem, auf das Alkohol antagonisierend wirkt,
angenommen.
Für die Therapie des Alkoholentzugsyndroms und Delirs stehen seit vielen Jahren im
wesentlichen zwei Substanzgruppen zur Verfügung, zum einen das Clomethiazol
(Distraneurin), dessen Wirkmechanismus nicht völlig klar ist, sowie die
Benzodiazepine, hier Diazepam ( wie Valium) und Dikaliumchlorazepat (Tranxilium).
Beide Substanzgruppen lassen sich sowohl oral wie intravenös geben, wobei die
therapeutische Breite bei Benzodiazepinen höher ist als beim Clomethiazol. Für
einfache Entzugssyndrome ist in der Regel eine Dosis von 10 bis 30 mg
Diazepam/Tag ausreichend, bei schwersten Delirien können aber auch mehrere 100
mg, zum Teil noch deutlich mehr, notwendig werden.
Clomethiazol hat sich in der Therapie, besonders der Alkoholdelirien, als
therapeutisch ebenbürtig herausgestellt. Problematisch ist bei dieser Substanz in
erster Linie die erhöhte Bronchialsekretion, aber auch das Risiko von
Herzstillständen bei intravenöser Gabe (intensives Monitoring). Bei schwersten
Delirien kann auch die Kombination mit Neuroleptika vom Haloperidol-Typ
notwendig werden.
In den letzten Jahren haben sich als weitere mögliche Alternativen in der
Alkoholentzugsbehandlung einerseits die Gabe von Clonidin (Catapresan und
andere), andererseits die Gabe von Carbamazepin (Texveta und andere)
herauskristallisiert. Clonidin spielt heute vor allem in der Intensivmedizin zur
Behandlung postoperativer Delirien eine große Rolle, wobei eine Monotherapie im
Regelfall aber nicht ausreichend ist. Carbamazepin hat sich bei "einfacheren"
Alkoholentzugsyndromen, besonders auch zur Behandlung alkoholbedingter
epileptischer Anfälle, als wirksam erwiesen, wobei hier meist Dosen von 800 bis
1000 mg gegeben werden. Inwieweit sich Carbamazepin auch zur ambulanten
Entzugsbehandlung bei Alkoholabhängigen eignet, ist umstritten, da es hier
gelegentlich zu suizidalen oder accidentiellen Überdosierungen und Intoxikationen
gekommen ist. Noch ungünstiger ist die ambulante Gabe von Clomethiazol und
Benzodiazepinen wegen des starken Mißbrauchspotentials.
Einen neuen Forschungsbereich stellt die pharmakogestützte Rückfallprophylaxe der
Alkoholabhängigkeit dar. Therapiestudien mit stationär behandelten
Alkoholabhängigen zeigen, daß hier die Abstinenzraten der meisten Untersuchungen
bei etwa 30 bis 40 Prozent (1-Jahres-Katamnese) liegen. Während klassische
Psychopharmaka wie Antidepressiva und Neuroleptika sich in der
Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit als weitgehend wirkungslos erwiesen
haben und nur zur Behandlung comorbider psychischer Störungen indiziert sein
können, eröffnen die sogenannten Antidipsotropika oder Anti-Craving-Substanzen
möglicherweise neue therapeutische Chancen. Die wichtigsten diesbezüglich
überprüften und zum Teil schon auf dem Markt befindlichen Substanzen sind:
O Acamprosat (Campral), eine NMDA-modulatorische Substanz, die sich in
zahlreichen klinischen Prüfungen als wirksames Medikament in der
Rückfallprophylaxe erwiesen hat;
O Opiatantagonisten vom Typ Naltrexon (Nemexin); hier ist die Datenlage noch
nicht gänzlich klar. Eine Reihe von Untersuchungen deuten aber darauf hin, daß
Opiatantagonisten die euphorisierende Wirkung von Alkohol blockieren und somit
helfen, die Trinkmenge zu reduzieren.
O Dopaminerge Pharmaka; trotz überzeugender Befunde zur Bedeutung des
mesolimbischen Dopaminsystems bei Alkoholabhängigen haben die diesbezüglich
durchgeführten Untersuchungen mit Dopamin-agonistischen wie -antagonistischen
Substanzen überwiegend enttäuschende Ergebnisse geliefert.
Klinisch geprüft wird derzeit noch die rückfallprophylaktische Wirkung von
Flupentixol (Fluxanol), einem Neuroleptikum, bei der Verabreichung niedriger
Dosen.
PZ-Artikel von Michael Soyka, München
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