Pharmazie
Seit Anfang August steht mit Tirofiban (Aggrastat®) ein neuer
Thrombozytenaggregationshemmer auf dem deutschen Markt zur
Verfügung. Sein Wirkprinzip beruht auf einer spezifischen Hemmung der
Glykoprotein-IIb/IIIa-Rezeptoren auf den Thrombozyten. Zugelassen wurde
Tirofiban zur Behandlung der instabilen Angina pectoris und des akuten
Nicht-Q-Wellen-Myokardinfarktes (NQWMI), zusätzlich zu
unfraktioniertem Heparin und Acetylsalicylsäure (ASS).
Tirofiban ist ein nicht-peptisches Tyrosinderivat, das selektiv und kompetitiv den
Glykoprotein (GP)-IIb/IIIa-Rezeptor der Thrombozyten hemmt. Thrombozyten
reagieren in vielfältiger Weise auf eine Gefäßwandläsion, zum Beispiel nach der
Ruptur einer atherosklerotischen Plaque in einer Koronararterie. Die von den
Thrombozyten verursachten hämostatischen Reaktionen können unter Umständen zu
lebensbedrohlichen Situationen führen. Bei der Schädigung eines Blutgefäßes wird
das Subendothel freigelegt. Vorbeiströmende Thrombozyten erhalten das Signal,
sich an der verletzten Stelle anzuheften. Die Thrombozytenadhäsion wird durch
Bindung des von-Willebrand-Faktor und anderer adhäsiver Moleküle gefördert. Die
Thrombozyten setzen ihrerseits Botenstoffe frei, die zusätzlich zirkulierende
Thrombozyten aktivieren.
Des weiteren kommt es auf der Oberflächenmembran der Thrombozyten zur
Expression von GP-IIb/IIIa-Rezeptoren, die für die Aggregation und die
Thrombusbildung verantwortlich sind. Sie reagieren spezifisch mit der
Aminosäuresequenz Argenin-Glycin-Aspartat (auch RGD-Sequenz genannt). Alle
adhäsiven Proteine, die eine RGD-Sequenz enthalten, binden an den
GP-IIb/IIIa-Rezeptoren. Zu diesen Proteinen gehört das Fibrinogen. Über die
Bindung des Fibrinogens an die GP-Rezeptoren der aktivierten Thrombozyten
entstehen durch Quervernetzung Thromben. Nach einer atherosklerotischen
Plaque-Ruptur können größere Thrombozytenaggregate beziehungsweise Thromben
zu einem lebensbedrohlichen Verschluß des erkrankten Gefäßes führen. Die Folge
ist eine instabile Angina pectoris oder ein Myokardinfarkt.
Zur Standardtherapie der instabilen Angina pectoris und des Myokardinfarktes
gehört seit langem neben der mechanischen Öffnung der verschlossenen Gefäße die
Hemmung der Blutgerinnung und der Thrombozytenaggregation mittels
Acetylsalicylsäure (ASS) und Heparin. Ziel der Forschung war es, die Aggregation
der Thrombozyten spezifischer zu hemmen. Mit Abciximab (ReoPro® ),
(PZ-Innovationspreisträger von 1995) steht bereits seit einiger Zeit eine Substanz zur
Verfügung, die als Antikörperfragmente den GP-IIb/IIIa-Rezeptor blockiert.
Die neue Substanz
Tirofiban ist der erste nicht-peptische GP-IIb/IIIa-Rezeptorantagonist, der aus dem
Schlangengift Echistatin entwickelt wurde, welches aufgrund einer RGD-Sequenz
thrombozytenaggregationshemmenden Eigenschaften besitzt. Tirofiban, eine
synthetische, niedermolekulare Substanz, hat Strukturmerkmale, die der
RGD-Sequenz ähneln. Aufgrund dessen ist diese Substanz in der Lage, den
GP-IIb/IIIa-Rezeptor kompetitiv zu blockieren und die Fibrinogen-Interaktion mit
den Thrombozyten zu verhindern. Tirofiban muß intravenös appliziert werden und
bindet rasch an den GP-IIb/IIIa-Rezeptoren der Thrombozyten, unabhängig von
deren Aktivierungszustand. Die Thrombozyten können so mit Tirofiban beladen
werden, bevor sie zur Fibrinogenbindung aktiviert werden.
Die Wirksamkeit der neuen Substanz konnte in drei großen randomisierten Studien
nachgewiesen werden. In der PRISM (Platelet Receptor Inhibition for Ischaemic
Syndrome Management)-Studie untersuchten Wissenschaftler die Wirksamkeit und
Verträglichkeit von Tirofiban versus Heparin bei 3232 Patienten mit instabiler
Angina pectoris beziehungsweise Nicht-Q-Wellen-Myokardinfarkt. Alle Patienten
erhielten begleitend ASS, sofern keine Kontraindikation vorlag. Primärer Endpunkt
war die kombinierte Häufigkeit von Tod, Myokardinfarkt oder refraktärer Ischämie
nach einer 48stündigen Infusion mit Tirofiban. Die Substanz senkte das Risiko für
das Auftreten des primären Endpunktes um 32 Prozent. Das Mortalitätsrisiko sank
unter Tirofiban im Vergleich zu Heparin 30 Tage nach Studienbeginn um 36 Prozent.
Die PRISM-PLUS-Studie (Platelet Receptor Inhibition for Ischaemic Syndrome
Management - Patients Limited by Unstable Signs and Symptoms) untersuchte ein
integriertes Behandlungskonzept von konservativer und interventioneller Therapie,
das der derzeit gängigen Praxis entspricht. Die Studie schloß 1815
Hochrisikopatienten mit instabiler Angina oder rudimentärem Infarkt ein.
Nach 48stündiger Behandlung mit Tirofiban und Heparin oder Heparin allein erfolgte
ein Koronarangiographie. Soweit indiziert, wurde unter laufender Studienmedikation
in gleicher Sitzung eine Angioplastie vorgenommen und anschließend die Medikation
weitere 12 Stunden fortgeführt. In dieser Studie wurde die Rate von Tod und
Myokardinfarkt während der ersten sieben Tage durch Tirofiban im Vergleich zur
Heparintherapie von 8,3 Prozent auf 4,9 Prozent gesenkt.
Nach 30 Tagen betrug die Risikoreduktion für den kombinierten Endpunkt 22
Prozent. Der Vorteil von Tirofiban blieb sechs Monate erhalten. Den größten
therapeutische Effekt registrierten die Wissenschaftler bei Patienten, bei denen eine
Angioplastie erforderlich war.
In der RESTORE-Studie (Randomized Efficacy Study of Tirofiban for Outcomes
and Restenosis) wurde an 2139 Patienten die Gabe von Tirofiban bei
interventioneller Therapie der instabilen Angina mittels Angioplastie untersucht.
Innerhalb von 30 Tagen ergab sich mit Tirofiban im Vergleich zur Standardtherapie
lediglich eine Risikoreduktion von 16 Prozent. Allerdings sank innerhalb der ersten
Woche in der Tirofiban-Gruppe das Risiko um 27 Prozent.
Alle drei Studien zeigen, daß Tirofiban die Erfolgsaussichten sowohl der
konservativen als auch der interventionellen Therapie bei instabiler Angina
verbessert. Ein direkter klinischer Vergleich mit Abciximab liegt noch nicht vor, so
daß über die Vorteile von Tirofiban gegenüber Abciximab nur spekuliert werden
kann. Inzwischen gibt es mit Xemilofiban und Orbofiban zwei Vertreter dieser
GP-IIb/IIIa-Rezeptoranatagonisten, die peroral applizierte werden können. Sie
befinden sich zur Zeit in Phase III der klinischen Studien.
PZ-Artikel von Hartmut Morck, München
© 1997 GOVI-Verlag
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