Pharmazie
Vor knapp 100 Jahren reiste Charles Henry Stevens auf Anraten seines
Arztes nach Südafrika. Der Engländer hoffte, das Klima lindere seine
schwere Tuberkulose. Im heutigen Lesotho traf der Lungenkranke einen
Medizinmann vom Stamm der Zulu, der ihm gegen seine Beschwerden eine
zerriebene Wurzel gab. Stevens nahm das Mittel ein und kehrte im
folgenden Jahr völlig geheilt heim.
Die Geschichte der südafrikanischen Wurzel ist kein Einzelfall. Viele Phytopharmaka
wurden entdeckt, weil reisende Ärzte, Apotheker und Botaniker von traditionellen
Heilern auf die richtige Fährte gebracht wurden.
Mit Hilfe automatisierter Screening-Methoden können Forscher heute täglich bis zu
5.000 Einzelproben pharmakologisch untersuchen. Der hohe Durchsatz führt dazu,
daß der Pharmaindustrie allmählich synthetisch-chemische Substanzen ausgehen und
deshalb immer häufiger Robotanlagen mit Naturstoffen gefüttert werden.
"Wir erleben eine Renaissance der Naturstoffchemie", sagte Professor Dr. Dieter
Marmé von der Klinik für Tumorbiologie, Freiburg, auf einer von Schwabe
ausgerichteten Pressekonferenz in Karlsruhe. Die Natur sei der beste Chemiker. Die
Suche nach neuen therapeutisch wirksamen Naturstoffen habe sich in den
vergangenen Jahren spürbar verstärkt. In der ungeheuren Artenvielfalt fänden
Forscher immer wieder Ausgangspunkte für Innovationen.
Marmé und seine Arbeitsgruppe arbeiten mit der Firma Schwabe und dem Institut
für Pharmazeutische Biologie der Universität Jena an einem Forschungsprojekt zur
Erschließung neuer Naturstoffquellen. Ziel des vom Bundesministerium für Bildung,
Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) geförderten Projekts ist es,
neue Naturstoffe zur Behandlung der Alzheimer Krankheit, von Arteriosklerose und
Krebs zu entdecken. Hierbei werden verschiedene robotergestützte
Screening-Methoden eingesetzt.
"Als Screening-Modell für Morbus Alzheimer haben wir die im Gehirn
vorkommende Proteinkinase C-y, für Krebserkrankungen die Raf-Kinase und für
Arteriosklerose die PDGF-Rß-Tyrosin-Kinase ausgewählt", sagte Dr. Clemens
Erdelmeier, Leiter der Abteilung Naturstoffe II bei Schwabe. Aktivatoren der
Proteinkinasen seien potentielle Wirkstoffe zur Behandlung von Alzheimer. Blockiere
man dagegen eine spezielle Kinase, so könne das Krebswachstum gebremst
werden.
Bei der Signalverarbeitung im Inneren der Zelle nimmt der biochemische Prozeß der
Proteinphosphorylierung mit den daran beteiligten Enzymen (Proteinkinasen) eine
Schlüsselstellung ein. Die Kinasen sind neben G-Proteinen als molekulare
Schaltelemente notwendig.
Zunächst wurden in der Klinik für Tumorbiologie drei Proteinkinasen als Zielmolkül
identifiziert und biotechnologisch produziert. Die Freiburger benutzten dazu DNA
eines rekombinanten Baculovirus und vermehrten sie im Kern einer Insektenzelle.
"Inzwischen haben wir mit Hilfe eines Roboters 4.000 Proben auf Aktivierung
beziehungsweise Inhibierung dieser Kinasen getestet," berichtete Dr. Christoph
Schächtele von der Klinik für Tumorbiologie. Der Roboter erlaube die Analyse von
circa 1.500 Proben pro Tage. Gefundene Treffer würden derzeit in zellulären
Testsystemen weiter analysiert. Zuletzt erprobe man die Substanzen in einem
Tiermodell.
Neben pflanzlichen Naturstoffen, die bei Schwabe hauptsächlich aus tropischen und
subtropischen Arten extrahiert werden, arbeitet ein Team unter der Leitung von
Professor Dr. Matthias Hamburger, Universität Jena, Proben aus ungewöhnlichen
Organismen auf. Die Extrakte aus Insekten, Pilzen und anderen Organismen sollen
dann dasselbe Screening in Freiburg durchlaufen.
In einem bereits 1997 abgeschlossenen BMBF-Projekt untersuchte Schächtele mit
seiner Crew mehrere tausend Pflanzenproben. Sechs Substanzen mit einer
potentiellen Wirkung auf Proteinkinasen blieben übrig und befinden sich nach
Angaben von Schwabe in der klinischen Prüfung.
Rund um den Globus schlummern Naturstoffe, die möglicherweise spezifisch gegen
Krebs oder Alzheimer wirken. Die Suche gleicht einer Sisyphusarbeit. Vielleicht hilft
da manchmal der Rat eines Medizinmannes weiter. Erst 1972 klärten Botaniker und
Pharmakologen die Identität der Eingangs erwähnten Pflanze namens Umckaloabo
auf. Inzwischen wurden Inhaltsstoffe und Wirkung des als Pelargonium sidoides
identifizierten Gewächses in umfangreichen pharmakologischen und klinischen
Untersuchungen dokumentiert.
PZ-Artikel von Ulrich Brunner, Karlsruhe
© 1997 GOVI-Verlag
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