Pharmazie
1948 behandelte Philip Hench, Rheumatologe der Mayo-Klinik in
Rochester (Maryland, USA), erstmals eine Patientin mit schwerster
rheumatoider Arthritis. Der Erfolg war bahnbrechend: Die Beweglichkeit
der Hände besserte sich innerhalb von zwei Tagen, vier Tage später konnte
die Patientin bereits wieder spazierengehen. 50 Jahre Cortison-Therapie:
Das Unternehmen Hoechst Marion Roussel gab aus diesem Anlaß eine
Pressekonferenz in Berlin.
Die Geschichte des Cortisons hat mit dem Behandlungserfolg Henchs weder
angefangen noch aufgehört. Den Beginn könnte man auf das Jahr 1564 datieren, als
der römische Anatom Bartholomeus Eustachius erstmals die Nebennieren beschrieb.
Ihre Funktion blieb allerdings unbekannt bis 1855 Thomas Addison, Arzt aus
London, die Symptome der primären Nebennierenrinden-Insuffizienz erkannte.
Virchow meinte übrigens damals, ihm sei "kaum je etwas Unlogischeres
vorgekommen", berichtete Dr. Hans J. Hatz, Rheumatologe aus München.
Im Laufe der Jahre lernten die Wissenschaftler, Mark und Rinde zu unterscheiden
und einen adrenalinfreien Extrakt zur Behandlung der Addinson'schen Krankheit
herzustellen. 1936 isolierten Kendall aus Rochester, Wintersteiner aus New York
und Reichstein aus Zürich gleichzeitig zum ersten Mal Cortison; später wurden sie
dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Es folgte die Entwicklung von
Herstellungsverfahren zur Partial- und Vollsynthese und später die Synthese
unzähliger Derivate.
In den fünziger und sechziger Jahren wurde die anfängliche Cortison-Euphorie auf
Grund der starken und häufigen Nebenwirkungen durch eine Cortison-Angst bei
Patienten und Ärzten abgelöst. Bis heute versucht man die Nebenwirkungen zu
reduzieren und dieser Angst entgegenzusteuern.
Für die neunziger Jahre gilt: Im akuten Stadium hoch- bis höchstdosierte Corticoide
für kurze Zeit anwenden, langfristig jedoch so niedrig wie möglich dosieren und die
Grenze individuell austitrieren. Topische Präparate sind meistens, aber nicht in allen
Fällen den systemischen vorzuziehen.
Corticoide und Rheuma
Anders als zu den Zeiten von Philip Hench gebe es heute eine breite Palette von
Medikamenten zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis, sagte Professor Jörn
Kekow, Universitätsklinik Magdeburg. "Glucocorticoide sind hier nicht mehr die
Key-Players." Indiziert sind sie bei akuten, floriden Krankheitszuständen,
insbesondere dann, wenn die Wirkung von Basistherapeutika wie Methotrexat noch
nicht eingetreten ist. Zur Behandlung eines Rheumaschubes werden 16 bis 40 mg
Methylprednisolon pro Tag gegeben. Für die mehrmonatige Gabe reichen 4 bis 6
mg, über 8 mg sollte die Dosis nicht hinausgehen. (Ab 6 mg kann eine Osteoporose
entstehen.)
Absolut kontraindiziert, so warnte Kekow, seien Corticoide bei infektiösen
Arthritiden. Sobald ein Gelenk geschwollen sei, müsse die Möglichkeit einer
Infektion geprüft werden. Würde ein eitriger Gelenkerguß mit Corticoiden
behandelt, wäre das Gelenk verloren. Degenerative Gelenkerkrankungen werden
mit Corticoiden nur selten erfolgreich therapiert. Vorsicht ist auch geboten bei
bereits bestehender Osteoporose und bei gleichzeitiger Einnahme von NSAR, da
sich die ulcerogene Wirkung beider Medikamente potenziert. Um Knorpelschäden
zu vermeiden, dürften Corticoide höchstens drei bis viermal pro Jahr in ein Gelenk
injiziert werden. Werden Corticoide mit Methotrexat kombiniert, könne die
Methotrexat-Dosis verringert werden, erklärte Kekow. Das Risiko einer Übelkeit
nimmt dadurch ab.
Corticoide und Asthma
Bei obstruktiven Atemwegserkrankungen steht meist die Entzündung im
Vordergrund. Topische Steroide können daher inzwischen schon ab Schweregrad I
gegeben werden. Professor Wolfgang Petro, Klinik Bad Reichenhall, erklärte, wann
systemische Corticoide indiziert sind: Wenn die Symptome kontinuierlich zunehmen,
der exspiratorische Spitzenfluß (PEF) 50 Prozent unter dem persönlichen Bestwert
liegt, der Patient nachts aufwacht und die Wirkung der ß2-Sympathomimetika
nachläßt (Schweregrad III). Im akuten Stadium könnten 40 mg Methylprednisolon
gegeben werden. Nach sieben Tagen wird die Dosis alle drei Tage um 8 mg, dann
wöchentlich um 2 mg reduziert. In den folgenden drei Wochen sollte die niedrigst
mögliche Erhaltungsdosis austitriert werden. Alle sechs bis zwölf Wochen ist diese
Einstellung zu überprüfen.
Werden gleichzeitig inhalative Steroide verordnet, spare man durchschnittlich 8 mg
Methylprednisolon, sagte Petro. Je eher eine Hyperreaktivität vorliege, desto besser
helfen Corticoide. Je mehr Bronchialwand und Lungengewebe zerstört sind, desto
geringer ist der Effekt.
Corticoide und Haut
Er sei eigentlich froh über die Corticoidphobie, sagte Professor Alexander Kapp
von der Dermatologischen Klinik und Poliklinik der Medizinischen Hochschule
Hannover. Ein kritischer Umgang mit diesen Arzneistoffen sei absolut notwendig.
Das gelte nicht nur für die systemische, sondern vor allem auch für die lokale
Therapie. Es sei "Unsinn", großflächige Erytheme oder eine Ganzkörper-Dermatitis
lokal zu behandeln. Würde der ganze Körper eingeschmiert, sei die Wirkung
systemisch, dann könne auch gleich ein perorales Präparat gegeben werden. "Bei
der systemischen Therapie weiß ich wenigstens wieviel der Patient wirklich
aufnimmt", sagte Kapp. Die Gefahr einer Hautatrophie verringert sich. Der Patient
müsse unbedingt diese Nebenwirkung kennen, denn die topischen Präparate
verführten zur unkontrollierten Anwendung.
Kein Corticoid ohne vorherige exakte Diagnose! Ist zum Beispiel eine Urticaria
durch einen Infekt ausgelöst, sind Corticoide falsch. Sucht und beseitigt man ein
Allergen, können Corticoide ganz überflüssig werden. Unnötig seien Steroide zur
Behandlung der Schuppenflechte, da Retinoide eher kausal angreifen und somit
vorzuziehen seien, so Kapp.
Corticoide bei Multipler Sklerose
In der Neurologie werden Corticoide bei Autoimmunerkrankungen an zentralen und
peripheren Nerven sowie an der Muskulatur eingesetzt. Schwerpunkt sei immer die
kurzzeitige, akute Therapie, erklärte Dr. Ralf Gold, Universitätsklinik Würzburg.
Mittelfristig werden die Patienten auf andere, meist immunmodulierende Substanzen
umgestellt. Gerade bei der Multiplen Sklerose (MS) sei es wichtig, so Gold, akute
Phasen schnell zu beenden. Je eher sie abgekürzt werden, desto seltener seien
nachfolgende Schübe. Wurden Patienten mit einer Sehnerventzündung (Symptom für
beginnende MS) mit hohen Corticoid-Dosen behandelt (500 bis 1000 mg
Methylprednisolon), hatten sie später tendenziell weniger MS-Schübe, als Patienten,
die mit einer niedrigeren Dosis oder Placebo behandelt worden waren. Es gebe also
Anhaltspunkte, daß Corticoide die schubartige Verschlechterung abfangen. Für
exakte Aussagen sei das bisherige Datenmaterial aber noch nicht ausreichend, sagte
Gold.
PZ-Artikel von Stephanie Czajka, Berlin
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