Pharmazie
Das neue Anticholinergikum Tolterodin (Detrusitol®) ist bei motorisch
bedingter Drang- und bei Reflexinkontinenz genauso gut wirksam wie
Oxybutynin, derzeitiger Goldstandard der anticholinergen
Harninkontinenztherapie, aber deutlich besser verträglich. Das zeigen
zumindest klinische Studien, die zur Markteinführung Anfang März geführt
haben und die jetzt vom Herstellerunternehmen Pharmacia & Uplohn in
Ascoli, Italien, präsentiert wurden.
Der motorischen Drang- und der Reflexinkontinenz liegt eine Überaktivität des
Blasenmuskels (Detrusor) zugrunde. Die Blase arbeitet deshalb enthemmt. Selbst
wenn sie nur wenig gefüllt ist, kann der Betroffene den Urin nicht halten. Da die
Kontraktion der Harnblasenmuskulatur beim Menschen hauptsächlich durch
Stimulation von Muskarinrezeptoren vermittelt wird, läßt sich der hyperaktive
Detrusor mit Anticholinergika dämpfen, die Blase reagiert träger.
Eingesetzt werden hauptsächlich die tertiären Amine Oxybutynin (Dridase®) und
Propiverin (Mictonorm®) sowie die quartäre Ammoniumbase Trospiumchlorid
(Spasmex®). Die Erfolgsraten liegen zwischen 60 und 70 Prozent, gemessen als
Rückgang der Miktionsfrequenz, Unterdrückung unwirkürlicher Detrusorkontraktion
und Zunahme der Blasenkapazität.
Der Haken der parasympatholytischen Therapie liegt auf der Hand: Die
Anticholinergika wirken nicht nur an der Blase. Systemische Nebenwirkungen treten
in 80 Prozent der Fälle auf und manifestieren sich hauptsächlich als
Mundtrockenheit. Ferner machen den Patienten Übelkeit, Verstopfung,
Akkomodationsstörungen, Verwirrtheit, Unruhe und Tachykardien zu schaffen.
Anticholinerge Wirkung: "oben und unten trocken"
In rund 10 Prozent der Fälle muß aufgrund dieser unerwünschten Begleiteffekte die
Therapie abgebrochen werden. Meistens ist es die quälende Mundtrockenheit, die
die Patienten veranlaßt, das Medikament abzusetzen. Allerdings scheint dabei die
Einbildungskraft der Patienten nicht unerheblich beteiligt zu sein. Eine
nordeuropäische Studie mit 458 Patienten belegt einen 17prozentigen Placeboeffekt
in Sachen Mundtrockenheit durch Anticholinergika, sagte Dr. Manfred Stöhrer von
der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Murnau.
Das neu eingeführte tertiäre Amin Tolterodin ist nach den Aussagen von Professor
Dr. Helmut Madersbacher, Universitätsklinik Innsbruck, genauso potent wie
Oxybutynin, hat aber weniger Nebenwirkungen. In klinischen Studien reduzierte
Tolterodin im Vergleich zu Placebo die Miktionsfrequenz um 20 Prozent und die
Häufigkeit des unfreiwilligen Harnverlustes um 45 Prozent. Die Blasenkapazität
erhöhte sich im Mittel um rund 35 ml. Langzeituntersuchungen bescheinigen dem
Tolterodin eine mindestens ein Jahr lang nachzuweisende, konstante positive
Wirkung", so Madersbacher.
Der Pluspunkt für Tolterodin liege in seiner signifikant besseren Verträglichkeit.
Phase-III-Studien mit 1860 Probanden ergaben, daß bei der Therapie mit dreimal
5mg Oxybutynin pro Tag 28 Prozent der Patienten über Mundtrockenheit klagen.
Bei der zweimal täglichen Gabe von 2mg Tolterodin trat Mundtrockenheit nur bei 4
Prozent und unter Placebo bei 2 Prozent auf.
So recht scheint der Grund für die niedrige Nebenwirkungsrate noch nicht bekannt
zu sein. Es steht nach präklinischen Daten fest, daß Tolterodin ein kompetitiver
Muskarinantagonist ist, der nicht-selektiv an bestimmte Muskarinrezeptorsubtypen
bindet. Die Detrusormuskulatur besteht aus einer gemischten Population von M2-
und M3-Rezeptorsubtypen, und zwar im Verhältnis 8:2. Die Speicheldrüsen sind nur
mit M3-Rezeptoren besetzt. Lisbeth Nilvebrant, Uppsala, vom
Herstellerunternehmen vermutete, dennoch eine in vivo höhere Spezifität für die
glatte Muskulatur der Harnblase als für die Speicheldrüse. Untersuchungen am
Meerschweinchen hätten ergeben, daß die Affinität von Tolterodin zu den
Muskarinrezeptoren der Speicheldrüse achtmal kleiner ist als die von Oxybutynin.
Auch die Affinität zu kardialen Strukturen scheint bei Tolterodin geringer ausgeprägt
zu sein als bei Oxybutynin. Langzeiterhebungen verdeutlichen, daß Tolterodin in der
empfohlenen Dosierung von zweimal 2 mg am Tag bezüglich kardiovaskulärer
Risiken bedenkenlos ist, obwohl die Herzmuskulatur durch M2-Rezeptoren
innerviert wird.
Niedrigere Dosierung durch aktiven Metaboliten
Die höhere Bindungstendenz der neuen Substanz zur Blasenmuskulatur als zu
Speicheldrüsen und Herzmuskulatur führt zu einer im Vergleich zu Oxybutynin
niedrigeren Dosierung. Den Grund hierfür sieht Nilvebrant in der aktiven
Metabolisierung von Tolterodin. Dabei spiele DDO1, die Laborbezeichnung des
5-Hydroxymethyl-Derivats von Tolterodin, die Hauptrolle.
DDO1 sei ein potenter Muskarinantagonist, der wie seine Muttersubstanz in vivo für
die Harnblase eine höhere Spezifität aufweist als für die Speicheldrüse. Dieser
Umstand sowie die Tatsache, daß die pharmakologischen und -kinetischen
Eigenschaften von DDO1 bis auf eine geringere Proteinbindung im Serum große
Ähnlichkeiten mit Tolterodin aufweisen, erlauben nach Nilvebrant die Annahme, daß
DDO1 signifikanten Anteil an der therapeutischen Wirkung von Tolterodin hat. Die
Wirkung korreliere jedenfalls mit der Summe aus der ungebundenen
Serumkonzentration von Tolterodin und DDO1.
PZ-Artikel von Elke Wolf, Ascoli
© 1997 GOVI-Verlag
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