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Von der Weidenrinde zum Lysinat

08.03.1999  00:00 Uhr

- Pharmazie Govi-Verlag

Von der Weidenrinde zum Lysinat

Barbara Voll, Schwetzingen

Ein weiter Weg führt von der Weidenrinde zu modernen nichtsteroidalen Antirheumatika - ein Weg, der begleitet wird von einer fortschreitenden Differenzierung verschiedener Krankheitsbilder, die von den antiken Ärzten unter dem Begriff "Rheuma" zusammengefaßt wurden.

Die Autoren des Corpus Hippocraticum verstanden unter Rheuma im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus die Folgen einer Überproduktion von kaltem Schleim, einem der vier Säfte in der Krankheitslehre der Humoralpathologie. Dieses Übermaß an schädlichem Schleim erzeuge ein schmerzhaftes "Fließen" in den Extremitäten und Gelenken, so die damals geltende Theorie. Als rheumata, also "Flüsse", wurden allerdings sowohl Rheuma als auch Katarrh bezeichnet. Auch für den berühmtesten Arzt der römischen Antike, den aus Pergamon stammenden Galen (129 bis 199 v. Chr.), gab es noch keinen Unterschied zwischen akuter und chronischer Gelenkerkrankung sowie Gicht. Erst der Pariser Arzt Guillaume Baillou, dessen bereits 1591 niedergeschriebene Beobachtungen erst posthum als "Liber de rheumatismo et pleuritide dorsali" im Jahre 1642 veröffentlicht wurden, trennte die Gicht von den rheumatischen Gelenkerkrankungen. Er prägte den Begriff "Rheumatismus" und definierte ihn als eine nicht durch Erkältung verursachte Allgemeinkrankheit, die in ein chronisches Stadium übergehe und zu einer deformierenden Arthritis führe.

Gelenkrheumatismus 1836 erstmals beschrieben

Auch die prominenten Ärzte des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, der Engländer Thomas Sydenham und der Holländer Hermann Boerhaave, unterschieden zwar zwischen Rheumatismus und Gicht, aber noch nicht zwischen akutem rheumatischen Fieber und chronischer rheumatoider Arthritis. Sydenham gilt heute als der Erstbeschreiber der Gicht. Die erste vollständige Beschreibung des akuten Gelenkrheumatismus stammt erst aus dem Jahre 1836 vom Pariser Kliniker Jean-Baptiste Bouillaud.

Ähnlich diffus wie die Einteilung der Gelenkerkrankungen waren die überlieferten therapeutischen Verfahren gegen die "rheumata": Noch 1805 empfahl John Haygarth gegen akuten Rheumatismus warme Bäder, ferner den Aderlaß, das Anlegen von Blutegeln, die Verwendung von Antimonpräparaten, Schwitz- und Abführmitteln sowie Chinarinde. Seit dem 18. Jahrhundert wurde auch die bereits in der Antike zur Schmerzlinderung und Fiebersenkung genutzte Weidenrinde, Cortex salicis, wieder in die therapeutische Palette der Ärzte gegen Rheumatismus aufgenommen, zum Teil in Dosierungen von bis zu 40 Gramm pro Tag. Der Turiner Chemieprofessor Raffaele Piria isolierte schließlich 1838/39 die in der Rinde enthaltene wirksame Substanz und bezeichnete sie als "Acide salicylique". 20 Jahre später gelang dem Chemiker Hermann Kolbe in Leipzig erstmals die Synthese der Salicylsäure. Sie wurde von der chemischen Fabrik von Heyden in Dresden rasch als fiebersenkendes und rheumatische Beschwerden besserndes Mittel kommerziell angeboten und fand lebhaften Absatz.

Allerdings hielt die Begeisterung für die Salicylsäure nicht lange an, da sie außer dem unangenehm bitteren Geschmack auch noch heftige Nebenwirkungen, wie schwere Reizungen der Magenschleimhaut und Ohrensausen hervorrief. Erst die vom Apotheker und Chemiker Felix Hoffmann in den Laboratorien der Farbenfabrik Bayer hergestellte Acetylsalicylsäure erfüllte die Erwartungen: gute antipyretische, analgetische und antiinflammatorische Wirksamkeit bei vertretbarem Nebenwirkungsprofil. 1899 wurde ASS als Aspirin eingeführt und trat seinen Siegeszug an. Seitdem auch die thrombozytenaggregationshemmende Wirkung von ASS bekannt ist, hat es zusätzlich seinen festen Platz in der Prophylaxe von arteriellen Erkrankungen.

ASS versus Pyramidon

Doch die Konkurrenz schlief nicht. Auch bei den Farbwerken Hoechst war 1893 von dem damaligen Laborleiter Friedrich Stolz eine Substanz entwickelt worden, die wenige Jahre später unter dem Handelsnamen Pyramidon auf den Markt kam. Der Wirkstoff Aminophenazon erwies sich als sehr wirksames Antipyretikum, das Chinin entbehrlich machte. Bis 1978 blieb Pyramidon ein mengenmäßig bedeutendes Produkt der Hoechst AG. Dann wurde es vom Markt genommen, weil Aminophenazon in den Verdacht geraten war, die Bildung von kanzerogenen Nitrosaminen im Organismus zu fördern. In Kombinationspräparaten wurde Aminophenazon meist durch Propyphenazon ersetzt.

Aus dem Labor der Farbwerke Bayer stammte außer ASS auch Phenacetin, das 1887 auf Anregung des Chemikers Carl Duisberg erstmals synthetisiert wurde. Phenacetin zählte rasch zu den häufig eingesetzten Analgetika und Antipyretika, wurde jedoch wegen seiner gravierenden nierentoxischen Wirkung bereits in den 70er Jahren von den pharmazeutischen Unternehmen freiwillig aus den meisten Präparaten entfernt und schließlich 1986 in Deutschland verboten. An seine Stelle rückte Paracetamol, das nur wenig antiphlogistisch wirkt und daher in der Rheumatherapie kaum Verwendung findet.

Trotz dieser Entwicklungen bestand die Therapie rheumatischer Erkrankungen vor 1965 nur aus wenigen Wirkstoffen. Acetylsalicylsäure mußte in hohen Dosen eingenommen werden, um einen befriedigenden antiphlogistischen Effekt zu erzielen, und löste dann erhebliche gastrointestinale Nebenwirkungen aus. Phenylbutazon, das 1953 als "Butazolidin" eingeführt worden war, konnte nur beschränkt eingesetzt werden, da als gefährlicher Nebeneffekt die Agranulozytose drohte. In den 50er Jahren wurde daher vor allem in den Vereinigten Staaten mit großem Aufwand nach Substanzen gesucht, mit denen sich rheumatische Erkrankungen in Schach halten ließen. Merck, Sharp & Dohme erprobten seit 1958 verschiedene Indolderivate, von denen im Unternehmen circa 2500 synthetisiert worden waren. 1960 stießen die Wissenschaftler bei der pharmakologischen Prüfung auf Indometacin, das 1965 unter dem Handelsnamen Indocin auf den Markt kam.

Die britische "Boots Company of Nottingham" suchte um 1955 Alternativen zur Corticoidtherapie bei rheumatischen Erkrankungen. 1960 entdeckte John Nicholson dabei Ibuprofen. Bei dieser Suche lagen Erfahrungen mit anderen Antiphlogistika zugrunde; mehr als 600 verschiedene Substanzen wurden geprüft. Zunächst fand man Ibufenac, das 1964 in Großbritannien eingeführt, jedoch wegen starker Hautausschläge bereits 1968 wieder vom Markt genommen wurde. Im Juli 1968 erhielt schließlich Ibuprofen die Zulassung in England, ein Jahr später wurde es auch in Deutschland zugelassen.

Ibuprofen als Analgetikum

In den 80er Jahren etablierte sich Ibuprofen auch als Analgetikum. Aufgrund seines günstigen Nebenwirkungsprofils und seiner hohen Sicherheit wurde Ibuprofen bereits 1983 - wiederum zuerst in Großbritannien - aus der Verschreibungspflicht entlassen. Die deutschen Behörden genehmigten im Januar 1989 den rezeptfreien Verkauf der 200-mg-Dosierung.

Heute gilt Ibuprofen als das am häufigsten gegen rheumatische Beschwerden eingesetzte nichtsteroidale Antirheumatikum. Auch als Analgetikum (Dosierung: 200 mg) hat es sich in der Spitzengruppe etabliert.

Doch auch damit waren die Wissenschaftler noch nicht ganz zufrieden. Das 1982 zugelassene Ibuprofen-Lysinat, das unter dem Handelsnamen Imbun in verschreibungspflichtiger höherer Dosierung zu 500 und 1000 mg eingeführt wurde, ergänzte die guten Eigenschaften der Muttersubstanz Ibuprofen um einen weiteren Vorzug: Es entfaltete seine Wirkung schneller.

Seit 1992 ist Ibuprofen-Lysinat als Dolormin® von Woelm Pharma in der 200-mg-Dosierung als rezeptfreies Analgetikum erhältlich. Verglichen mit der "Mutter aller NSAR", der Acetylsalicylsäure, schneidet Ibuprofen-Lysinat im Spannungsfeld zwischen Wirkung und Nebenwirkungen besser ab. Zum einen erreicht man eine vergleichbare analgetische Wirkung bereits mit einer wesentlich geringeren Dosierung, ferner tritt die Schmerzlinderung bei Dolormin sehr rasch ein und hält auch lange an. Zum anderen hat sich die lokale intestinale Verträglichkeit von Ibuprofen-Lysinat in einer endoskopisch kontrollierten Vergleichsstudie mit 800 mg Ibuprofen-Lysinat versus 2000 mg ASS pro Tag als deutlich besser dargestellt. Unter Ibuprofen-Lysinat traten weniger und geringer ausgeprägte gastroduodenale Erosionen auf. Die beiden verwendeten Dosierungen waren hinsichtlich der Analgesie gleich effektiv.

Diese Studie des Gastroenterologen Professor Dr. Bernd Simon zeigt damit zweierlei: Der 100 Jahre alte Klassiker ASS dient immer noch als Vergleichsstandard für aktuelle Studien, die junge Tochter Ibuprofen-Lysinat hat ihre "Ahnin" aber in mehrfacher Hinsicht überholt. Top

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