Pharmazie
Der therapeutische Nutzen von Biotin bei reduzierter Nagelqualität,
unabhängig von einem Biotinmangel, gilt als gesichert. Der Effekt des
Vitamins bei Keratinisierungsstörungen der Haut und beim Haarausfall ist
dagegen bisher nicht belegt, da keinerlei Untersuchungen vorliegen, die
strengen wissenschaftlichen Kriterien standhalten.
Biotin hat für den Menschen essentiellen Charakter und kann somit als Vitamin
angesehen werden. Für Biotin werden in der Literatur als Synonyme Vitamin H,
Hautvitamin, Coenzym R und antiseborrhoisches Vitamin verwendet. Chemisch
handelt es sich um ein bizyklisches Harnstoffderivat mit einem Imidazolidon- und
einem Thiophan-Ring. Biotin dient verschiedenen Enzymen als prosthetische Gruppe
bei Carboxylierungsreaktionen und spielt dadurch eine essentielle Rolle bei der
Glukoneogenese, der Lipogenese, der Fettsäuresynthese, im Propionatmetabolismus
und beim Abbau von Leucin. Es stimuliert die Differenzierung der epidermalen
Zellen, so daß eine Wirkung auf die Keratinstrukturen von Haut, Haaren und Nägeln
angenommen werden kann.
Bakterien, Pilzen, höhere Pflanzen und tierisches Gewebe - vor allem Leber und
Niere - enthalten Biotin. Lebensmittel, die das Vitamin enthalten, sind: Eidotter,
Hefe, Sojabohnen, Erdnüsse, Haferflocken, Sardinen, Blumenkohl und Linsen. Die
Resorption von freiem Biotin erfolgt bereits im oberen Dünndarm, von dort verteilt
es sich auf alle Organe. Dabei passiert das Molekül die Dünndarmwand
unverändert. Die Aufnahme erfolgt in Abhängigkeit von der Konzentration durch
Diffusion und durch aktiven Transport.
Klinische Effekte von Biotin sind aus der Tiermedizin bestens bekannt. Beim Huhn
äußert sich Biotinmangel durch Schäden an Haut und Krallen. Beim Schwein treten
Dermatitis, Verlust der Borsten, Klauenrisse und brüchige Hufen auf. Pferde zeigen
bei Biotinmangel Hufhorndefekte, die sich durch sprödes, bröckelndes Horn,
Ausbrüche am Tragrand und Hufdeformationen darstellen. Nach einer Biotintherapie
über 9 bis 12 Monaten mit 5 mg pro 150 kg Körpergewicht täglich zeigten 63
Prozent aller behandelten Pferde eine völlige Heilung. Dabei zeigte sich, daß Biotin
keinen Einfluß auf die Quantität der Epidermiszellen, sondern nur auf deren Qualität
ausübt. Übertragen auf den Menschen, sind Effekte von Biotin bei
Keratinisierungsstörungen der Haut, Haare und Nägel möglich.
Biotin bei der Behandlung von Hautkrankheiten
Mitteilungen über den Effekt von Biotin bei Hautkrankheiten finden sich in der
Literatur nur spärlich. Kontrollierte Studien liegen nicht vor. Im Vordergrund der
Beobachtungen steht das seborrhoische Ekzem. Man geht davon aus, bei 80
Prozent der Patienten mit Seborrhoe einen erniedrigten Biotinspiegel vorzufinden,
der auf einen multiplen Carboxylase-Mangel zurückzuführen ist. Eigene
Untersuchungen sprechen eher gegen diese Annahme. In einem gemischten Kollektiv
von 60 Seborrhoikern und Sebostatikern fanden wir in keinem Fall einen
pathologisch erniedrigten Biotinspiegel im Plasma. Messaritakis hat 25 Kinder mit
seborrhoischer Dermatitis mit 5 mg Biotin pro Tag behandelt und gibt klinische
Besserung an. Es wird hervorgehoben, daß während einer bis auf 27 Monate
ausgedehnten Nachbeobachtungszeit keine Rezidive aufgetreten sind.
Allerdings ist die kindliche seborrhoische Dermatitis eine Erkrankung Neugeborener
in den ersten drei Lebensmonaten. Da kontrollierte Studien zum Effekt von Biotin
bei schuppenden Hauterkrankungen bisher fehlen, bleibt die Frage nach dem
therapeutischen Nutzen von Biotin vorerst offen.
Zum Einfluß von Biotin bei Haarkrankheiten finden sich in der Literatur einzelne
kasuistische Berichte. Calvieri weist auf einen Fall von Biotinidase-Mangel hin, der
sich an den Haaren als Trichorrhexis nodosa äußerte. Unter Biotin-Therapie bildeten
sich die pathologischen Veränderungen an den Haaren vollständig zurück. Charles
beschreibt den Fall einer Alopezie bei einem zehn Monate alten Jungen mit
Biotinidase-Mangel, die sich nach Biotingabe besserte.
Unabhängig von Biotinmangel empfiehlt Floersheim die Behandlung von Haarausfall
mit Biotin. Bei der Untersuchung von 65 Frauen und 28 Männern mit Haarausfall
wird eine deutliche Besserung in 64 Prozent der Fälle angegeben. Jedoch weist die
Studie von Floersheim erhebliche methodische Mängel auf, die letztlich eine
wissenschaftlich validierte Aussage nicht zulassen.
In die Untersuchung wurden Patienten aufgenommen, die wegen des Symptoms
Haarausfall und/oder verminderter Haarqualität eine hautärztliche Praxis aufgesucht
hatten. Eine strenge Unterscheidung verschiedener Formen von Haarausfall wurde
beim Einschluß der Probanden nicht gemacht. Floersheim diagnostizierte vorwiegend
ein androgenetisches Effluvium. Bei einzelnen Fällen war die Alopezie nach Angaben
des Autors nicht eindeutig klassifizierbar oder mit Diagnosen wie Alopecia areata
beziehungsweise Pseudopelade Brocq assoziiert. Die Inhomogenität des Kollektives
ist bei einer Therapiestudie nicht akzeptabel, da den einzelnen Formen des
Haarausfalles unterschiedliche pathogenetische Ursachen zugrunde liegen.
Ein weiterer gravierender methodischer Mangel bei der obengenannten Studie liegt
in der Tatsache, daß die Diagnose des Haarausfalles nur anhand anamnestischer
Angaben der Probanden gestellt wurde. Die klinische Verdachtsdiagnose wurde
nicht im Trichogramm überprüft.
Genauso unzulänglich wurden die klinischen Effekte nach Einnahme von Biotin
dokumentiert. Als Therapieerfolg wurde lediglich die positive Wertung durch den
Probanden im Ja/Nein-Verfahren gewertet. Selbsteinschätzungen durch den
Betroffenen sind erfahrungsgemäß sehr unzuverlässig und sollten zumindest im
Kollektivvergleich durch Gabe von Placebo kontrolliert werden.
Ein zusätzlicher Mangel der Untersuchung von Floersheim liegt darin, daß im
Kollektiv der 93 eingeschlossenen Personen mit Haarausfall zehn Probanden
zusätzlich zum Biotin Präparate verwendeten, von denen ein positiver Effekt auf das
Haarwachstum zu erwarten ist. Im einzelnen handelte es sich um Crinohermal®
FEM, Triaktivin®, Pentadecan® und Diane®. Einige verwendeten sogar mehrere
der genannten Präparate gleichzeitig.
Biotin und Nagelqualität
Anders als bei der Behandlung von Hautproblemen und von Haarausfall kann der
therapeutische Nutzen der oralen Gabe von Biotin bei reduzierter Nagelqualität als
gesichert betrachtet werden. Sebastian befand in einer offenen klinischen Studie
Biotin als effektiv. Wir konnten bei 60 Probanden in einer randomisierten,
placebokontrollierten, doppelblinden Studie anhand meßtechnischer und klinischer
Parameter eine Wirkung von 2,5 mg Biotin täglich bei spröden und brüchigen
Fingernägeln nachweisen. Als Parameter für die Beurteilung der Nagelqualität
dienten neben dem Quellverhalten des Nagels auf Natronlauge die klinische
Beurteilung durch den Arzt und den Probanden.
Das Quellverhalten von Nagelkeratin auf Natronlauge gilt als sensibler Parameter für
die Nagelqualität. Dieses Verfahren hat sich bei klinischen Untersuchungen bewährt.
Das mit Biotin behandelte Kollektiv hebt sich nicht nur durch das verbesserte
Quellverhalten des Nagels ab. Auch die Probanden selbst und die mit Placebo
behandelte Gruppe beurteilten den Effekt positiv. Erwähnenswert ist, daß der
positive Einfluß von Biotin nicht an einen Mangel gebunden ist. Bei keinem unserer
Probanden konnte trotz reduzierter Nagelqualität ein Biotin-Defizit festgestellt
werden. Damit unterstreichen unsere Untersuchungen die Beobachtung von
Sebastian und Bartel, die zu ähnlichem Ergebnis bei einer reinen klinischen
Beobachtung kamen.
PZ-Artikel von Wolfgang Gehring, , Bietigheim
© 1997 GOVI-Verlag
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