Pharmazie
Prophylaxe und Therapie gehen mitunter Hand in Hand. So zum Beispiel
bei der Wundversorgung: Damit die Wunde optimal heilen kann, empfiehlt
sich ein Wundantiseptikum, um Infektionen schon von vornherein zu
unterbinden. Der Heilungsprozeß selbst darf dabei aber nicht negativ
beeinflußt werden. Ein Arzneistoff, der diese Eigenschaften erfüllt und sich
schon lange vor allem in Krankenhäusern bewährt hat, ist Octenidin.
Octenidin ist ein Bispyridin. Die Substanz enthält zwei kationenaktive Zentren, eben
die Pyridinringe, die durch eine lange aliphatische Kohlenwasserstoffkette (zehn
Methylgruppen) voneinander getrennt sind und sich deshalb gegenseitig nicht
beeinflussen. Zwei Chloridionen übernehmen den anionischen Gegenpart.
Hydrolyseanfällige Ester- oder Amidstrukturen sind im Molekül nicht enthalten. Das
macht die Verbindung recht stabil.
Octenidin besitzt ein breites antimikrobielles Wirkspektrum, wobei die Effektivität
gegen grampositive und gramnegative Bakterien gleich stark ausgeprägt ist. Die
mikrobiozide Wirksamkeit beziffert die Monographie als etwa 5- bis 10fach höher
als die von Chlorhexidin. Octenidin ist außerdem wirksam gegen Pilze, Hefen,
Trichomonaden und lipophile Viren wie Hepatitis-B- und Herpes-simplex-Viren. In
Kombination mit Phenoxyethanol (Octenisept®) ergeben sich synergistische Effekte,
die es ermöglichen, daß trotz niedriger Wirkstoffkonzentrationen die Wirkung rasch
eintritt. Im genannten Fertigpräparat enthalten 100 ml Lösung 0,1 Gramm
Octenidindihydrochlorid und 2 Gramm 2-Phenoxyethanol.
Octenidin ist denn auch als Schleimhaut- und Hautantiseptikum für den Ano- und
Urogenitalbereich (Vagina/Vulva, Glans Penis, Katheterisierung der Harnblase)
sowie für die Mundhöhle vor diagnostischen und operativen Eingriffen zugelassen.
Laut Beipackzettel eignet sich Octenidin auch für andere Indikationen, und zwar zur
"unterstützenden, antiseptischen Wundbehandlung und zur unterstützenden Therapie"
bei Fußpilz in den Zehzwischenräumen.
Vorteile in der Schleimhautantiseptik
Bedeutung hat Octenidin vor allem in der Schleimhautantiseptik erlangt. Die Palette
anderer zur Verfügung stehender Substanzen ist nicht sehr vielfältig und weist
erhebliche Nachteile auf. Povidon-Iod ist zwar gut wirksam, wegen der Wirkung auf
die Schilddrüse verbietet sich aber der Einsatz bei Schwangeren und
schilddrüsenkranken Patienten. Zudem zeigt Povidon-Iod im Gegensatz zu Octenidin
keine Langzeitwirkung; Octenidin entfaltet selbst sechs Stunden nach der
Desinfektion noch bakterizide Eigenschaften. Weiterer Nachteil des Iodkomplexes:
Die Braunfärbung wird besonders im ambulanten Bereich als Nachteil empfunden.
Eventuell noch in Frage kommende quecksilberhaltige Präparate sind obsolet,
Wasserstoffperoxid wirkt verhältnismäßig langsam und wird vor allem durch
katalasehaltige Körperflüssigkeit rasch zersetzt. Alkoholhaltige Präparate, die oft zur
Desinfektion der Haut eingesetzt werden, eignen sich nicht zur
Schleimhautbehandlung. Sie sind lokal unverträglich und schmerzen beim Auftragen.
Octenidin dagegen ist gut verträglich, wie beispielsweise eine vaginalzytologische
Untersuchung bestätigt. Weder drei Minuten noch sechs Stunden nach einer
antiseptischen Behandlung der Vagina wurden in den Zellabstrichen
Zellveränderungen beobachtet. Wie Tier- und In-vivo-Versuche zeigen, wird
Octenidin über die Schleimhaut der Vagina (Kaninchen) oder über Wunden
(Mensch, Ratte) nicht resorbiert.
Erfahrungen aus der Praxis
Octenidin-haltige Lösungen eignen sich nicht nur zur Prophylaxe. Ebenso können sie
auf bestehende infektiöse Wunden aufgesprüht werden, entweder als alleinige oder
als adjuvante Maßnahme in Kombination mit systemisch verabreichten Antibiotika.
Die Erfahrungen aus der chirurgischen Ambulanz sind gut dokumentiert. Innerhalb
einer klinischen Untersuchung wurden während zwei Jahren die Biß-, Schnitt- und
Schürfwunden von 1 000 Patienten versorgt, davon die Hälfte Kinder. Die Wunde
und die angrenzende Hautpartie wurde zuerst mit Wasserstoffperoxid gespült,
gereinigt und anschließend mit einer Octenidin-haltigen Lösung besprüht. Während
des Anwendungszeitraumes wurden keine systemischen und lokalen
Nebenwirkungen wie Rötungen, Schwellungen oder Wundheilungsstörungen
beobachtet.
Auch über die Versorgung nichtoberflächlicher Wunden (Ulcus cruris, Dekubitus)
liegen Erfahrungen vor. In einer klinischen Untersuchung beispielsweise verwendete
man die Octenidin-haltige Lösung bei 141 Patienten zur adjuvanten
Wundbehandlung. Superinfizierte Wunden samt der sie umgebenden Haut wurden
mechanisch mit einem sterilen Mulltupfer gereinigt und anschließend mit Verum
besprüht. Tiefe, zerklüftete Wunden wurden mit 1:1 verdünntem Verum (1:1
Verdünnung mit 0,9%iger Kochsalz- oder Ringerlösung) gespült. Die Behandlung
wurde sehr gut vertragen, nur zwei Prozent der Patienten empfanden ein Brennen,
das beim Spülen mit Ringerlösung wieder verschwand. Bei 92,2 Prozent trat nach
Behandlungsende eine Verbesserung und beim Rest eine Verschlechterung des
Wundzustandes ein.
Aktuelle Untersuchungen an Humanblut zeigen, daß Octenidin weder die direkt nach
der Verletzung einsetzende nicht-bakterielle Entzündung noch Vorgänge wie
Granulation und Reepithelialisierung negativ beeinflußt. An diesen Abläufen sind eine
Vielzahl von Faktoren des Immunsystems beteiligt, die in aufeinander abgestimmter
komplexer Abfolge die Wiederherstellung des Ausgangszustandes herbeiführen.
Wesentliche Regulationsfaktoren sind der Tumornekrosefaktor TNF-alpha und der
Platelet Derived Growth Factor AB (PDGF-AB).
TNF-alpha ist ein wichtiger Marker für die Entzündungsreaktion. PDGF-AB stellt
einen der wirksamsten Wachstumsfaktoren bei der Wundheilung dar. Er fördert die
Zellteilung von Fibroplasten und regt die Hyaluronsäure- und Fibronectinsynthese
an. Er ist somit ein wichtiger Marker für den Wundverschluß. In der
Humanblut-Untersuchung beeinfußte die Octenidin-haltige Lösung weder die
TNF-alpha- noch die PDGF-AB-Werte.
Ausblick
Der Einsatz bei Verbrennungen stützte sich bisher größtenteils auf Einzelfall-Berichte.
In einer Verbrennungsklinik läuft derzeit eine Studie, deren erste Ergebnisse
erfolgsversprechend sind. So scheint die Octenidin-haltige Lösung auch bei
großflächigen Verbrennungen des II. und III. Grades präoperativ und vor
Verbandswechseln indiziert zu sein.
PZ-Artikel von Elke Wolf, Oberursel
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