Arsentrioxid, Bosentan, Tiotropiumbromid und Valganciclovir |
01.07.2002 00:00 Uhr |
Neu auf dem Markt
von Ulrich Brunner, Eschborn, und Brigitte M. Gensthaler, München
Vier Kandidaten gingen im Juni an den Start: das Leukämiemedikament Arsentrioxid, der Endothelin-1-Antagonist Bosentan, das Atemwegstherapeutikum Tiotropiumbromid und das Virustatikum Valganciclovir.
Arsentrioxid
Seit Anfang Juni vertreibt das aus Seattle stammende Pharmaunternehmen Cell Therapeutics auch in Deutschland Arsentrioxid (Trisenox®) zur Behandlung von Patienten mit rezidivierender beziehungsweise refraktärer akuter Promyelozyten-Leukämie (APL).
APL ist eine von acht Unterarten der akuten myeloischen Leukämie (AML). Die bösartige Krankheit ist durch eine abnormale Translokation von genetischem Material von Chromosom 17 auf 15 charakterisiert. In der Folge unterdrückt ein entartetes Protein die Ausreifung der Leukozyten im Knochenmark.
Der genaue Wirkmechanismus von Arsentrioxid ist noch nicht geklärt. Dazu existieren zwei Hypothesen: Einerseits soll die Substanz das abnormale Protein zerstören, das die Ausreifung der Leukozyten behindert. Andererseits postulieren Forscher, dass Arsentrioxid den programmierten Zelltod ankurbelt, indem es die Freisetzung von Caspase-Enzymen fördert.
Die Behandlung mit Trisenox® ist erfahrenen Ärzten in der Klinik vorbehalten. Dementsprechend wird das Präparat nur an Krankenhaus versorgende Apotheken geliefert.
Als Standardtherapie erhalten APL-Patienten Zytostatika und all-trans-Retinoide. Auf dieses Regime sprechen jedoch 20 bis 30 Prozent der Betroffenen nicht an. Für sie steht nun das Arsensalz zur Verfügung.
Arsentrioxid wurde in zwei offenen Studien ohne Vergleichsgruppe an 52 APL-Patienten geprüft, die zuvor Anthrazyklin und ein Retinoid erhalten hatten. Die Studienteilnehmer bekamen intravenös eine mittlere Tagesdosis von 0,15 bis 0,16 mg pro kg Körpergewicht. Je nach Ansprechrate schloss sich nach erfolgreicher Vollremission und einer Konsolidierungstherapie eine Erhaltungstherapie an. Bei 85 beziehungsweise 92 Prozent der Patienten konnten zunächst keine sichtbaren Leukämiezellen mehr im Knochenmark nachgewiesen werden (Vollremission). Bis zur Vollremission vergingen im Schnitt 35 Tage. Diese Remission hielt rund 55 Tage an. Die Überlebensrate nach 18 Monaten lag bei 67 Prozent.
Das Nebenwirkungsspektrum von Arsentrioxid ist vielschichtig. Die Symptome reichen von Fieber, Dyspnöe und Leukozytose bis hin zu Herzrhythmusstörungen und einem gestörten Elektrolythaushalt. Da der Wirkstoff die QT-Zeit verlängert, ist bei ähnlich wirkenden Arzneistoffen wie Makroliden oder dem Neuroleptikum Thioridazin extreme Vorsicht geboten.
Arsen wird überwiegend in der Leber, Niere, dem Herzen, der Lunge sowie Haaren und Nägeln gespeichert. Dreiwertige Verbindungen scheidet der Körper hauptsächlich methyliert über die Niere aus.
Eine Ampulle Trisenox enthält 1 mg des Wirkstoffs. Das Arzneimittel ist nicht konserviert und muss daher streng aseptisch appliziert werden. Die Lösung wird mit 5-prozentiger Glucoselösung oder physiologischer Kochsalzlösung verdünnt und über ein bis zwei Stunden infundiert. Die Infusion darf nicht mit anderen Arzneimitteln gemischt oder gleichzeitig verabreicht werden.
Bosentan
Rund drei bis fünf von 100.000 Einwohnern in der Bundesrepublik leiden unter einer pulmonalen arteriellen Hypertonie (PAH). Die Krankheit resultiert unter anderem aus einem Ungleichgewicht zwischen dem Vasokonstriktor Endothelin-1 und dem Dilatator Prostacyclin. Zunächst steigt der Blutdruck im kleinen Kreislauf. Später wird das Wachstum der Endothelzellen angekurbelt, und es kommt zu einem so genannten Remodeling der Gefäße.
Für die PAH standen bislang keine spezifischen effektiven Pharmaka zur Verfügung. Seit Mitte Juni vertreibt das Schweizer Biotech-Unternehmen Actelion auch in Deutschland den Endothelin-1-Rezeptorantagonisten Bosentan. Die Struktur des Wirkstoffs leitet sich von einem Sulfonamid ab. Bosentan blockiert spezifisch die Endothelin-1-Rezeptoren vom Typ A und B auf Endothel- und glatten Muskelzellen.
Bosentan (Tracleer™) ist bei PAH zur Verbesserung der physischen Belastbarkeit zugelassen. Die Behandlung muss von einem erfahrenen Arzt eingeleitet und überwacht werden. Dazu erhalten die Patienten zunächst zweimal täglich 62,5 mg Bosentan über vier Wochen und später eine Erhaltungsdosis von zweimal täglich 125 mg. Spricht die Therapie nach acht Wochen nicht an, sollte sie abgebrochen werden.
Die Wirksamkeit von Bosentan wurde in zwei randomisierten doppelblinden placebokontrollierten Multicenterstudien bei 32 beziehungsweise 213 Patienten mit PAH geprüft. Dabei erhielten die Probanden das genannte Therapieregime. Primärer Endpunkt war die Veränderung der 6-Minuten-Gehstrecke nach zwölf und 16 Wochen. In beiden Studien profitierten die Patienten von einer signifikanten Steigerung der körperlichen Belastbarkeit. Zudem litten sie deutlich seltener unter Dyspnöe. Die Dosiserhöhung auf 250 mg täglich brachte keinen deutlichen Benefit.
Bosentan erhöht die Werte der Leber-Aminotransferasen ALT und AST. Diese Veränderungen treten in den ersten 16 Wochen der Therapie auf. Vermutlich resultiert dieser Effekt aus einer verminderten Ausscheidung von Gallensalzen. Daher sollte Bosentan auch nicht mit Rifampicin, Glibenclamid oder Cyclosporin A kombiniert werden. Zudem kann der Arzneistoff die Hämoglobinkonzentration erniedrigen.
Nach peroraler Gabe von Bosentan sind rund 50 Prozent der Wirkstoffs bioverfügbar. Der Wirkstoff wird zu 98 Prozent an Plasmaproteine gebunden. Die terminale Eliminationshalbwertszeit liegt bei fünfeinhalb Stunden.
Bosentan induziert CYP2C9 und CYP3A4. Bei Arzneistoffen, die über die selben Cytochrom-Enzyme verstoffwechselt werden, zum Beispiel Warfarin, Simvastatin, Ketoconazol und Digoxin, ist daher Vorsicht geboten.
Tracleer® genießt als Medikament gegen eine relativ seltene Krankheit den Status als Orphan drug. Daher erhielt der Hersteller Actelion die Zulassungen der Behörden in Nordamerika und Europa in Rekordzeit. Der Arzneistoff verfügt über einen völlig neuen Wirkungsmechanismus und bereichert auf alle Fälle die Pharmakotherapie der PAH. Inzwischen forschen Wissenschaftler an weiteren Indikationsgebieten für den Endothelin-Antagonisten.
Tiotropiumbromid
Lange und mit Spannung erwartet wurde der neue Bronchodilatator für Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD). Tiotropiumbromid wird seit 17. Juni von Boehringer Ingelheim und Pfizer als Spiriva® 18 mg Kapsel mit Inhalationspulver vermarktet. Der Wirkstoff wird mit dem beigefügten HandiHaler® einmal täglich zur gleichen Tageszeit inhaliert. Jede Kapsel enthält 18 mg Tiotropium-Ion, aus dem Pulverinhalator werden 10 mg abgegeben.
Tiotropiumbromid leitet sich strukturell vom Atropin ab und liegt wie Ipatropiumbromid als quaternäres Ammoniumsalz vor. Die beiden Thiophen-Ringe erhöhen die Lipophilie. Tiotropium ist ein lang wirksamer Muskarinrezeptor-Antagonist (häufig als Anticholinergikum bezeichnet), der an die Rezeptorsubtypen M1 bis M5 bindet. In der Bronchialmuskulatur besetzt der Wirkstoff reversibel und kompetitiv den Subtyp M3 und blockiert so die bronchokonstriktorischen Effekte von Acetylcholin. Die bronchialerweiternde Reaktion wird etwa 30 Minuten nach Inhalation beobachtet. Tiotropium dissoziiert sehr viel langsamer vom M3-Rezeptor als Ipratropium und Atropin. Darauf wird seine lange Wirkdauer zurückgeführt, die eine einmal tägliche Applikation ermöglicht.
Nach Inhalation wirkt das Ammoniumsalz primär lokal in den Bronchien. Die Resorption des verschluckten Anteils aus dem Magen-Darm-Trakt ist gering (10 bis 15 Prozent). Der Wirkstoff wird kaum metabolisiert. Nach inhalativer Gabe werden 14 Prozent der Dosis mit dem Urin ausgeschieden; der Rest besteht vorwiegend aus nicht resorbierter Substanz im Darm und wird fäkal ausgeschieden.
Tiotropiumbromid war in klinischen Studien sowohl Placebo als auch Ipratropiumbromid deutlich überlegen. Die bronchodilatierende Wirkung und die Verbesserung der Luftnot blieben ohne Anzeichen einer Toleranzentwicklung über ein Jahr erhalten.
In zwei einjährigen placebokontrollierten Studien mit 921 COPD-Patienten verbesserte das Verum signifikant die Lungenfunktion, gemessen am Anstieg des forcierten Ein-Sekunden-Ausatemvolumens (FEV1) und der mittleren FEV1-Werte unmittelbar vor der Applikation, also etwa 24 Stunden nach der letzten Inhalation ("Trough-FEV1-Antwort"). Außerdem litten die Patienten weniger an Atemnot und COPD-Exazerbationen und wiesen in Gesundheitsfragebögen einen besseren allgemeinen Gesundheitsstatus auf. Häufigste Nebenwirkung, bei 16 Prozent der Patienten, war ein trockener Mund.
In zwei einjährigen Studien inhalierten die Patienten einmal täglich 18 mg Tiotropiumbromid oder viermal täglich 40 mg Ipratropiumbromid. Der neue Wirkstoff erhöhte signifikant den Trough-FEV1-Wert und das maximale Ausatemvolumen (forcierte Vitalkapazität, FVC). Die Wirkung hielt über 24 Stunden an. Die Patienten der Tiotropium-Gruppe hatten weniger akute Verschlechterungen, und es dauerte länger, bis erste Exazerbationen auftraten und die Patienten wegen dieser Komplikation ins Krankenhaus mussten. Außerdem griffen sie etwa viermal seltener zum Notfallmedikament Salbutamol als die Studienteilnehmer unter Ipratropium.
Die Patienten inhalieren das Medikament aus einem nachfüllbaren Pulverinhalator. Dazu ist mindestens ein Atemfluss von 20 l/min nötig. In einer kleinen Studie erreichten auch Patienten mit schwerer COPD diese Werte beim Einatmen. Die Mittelwerte lagen bei 26,7 bis 32,7 l/min.
Da Handhabung und Reinigung eines Pulverinhalators nicht einfach sind, sollte der Apotheker dies dem Patienten erklären. Außerdem muss dieser wissen, dass Spiriva® kein Notfallmedikament ist und dass das Pulver nicht in die Augen gelangen darf. Bei Augenschmerzen, Sehstörungen oder Anzeichen für ein Glaukom muss der Patient sofort zum Arzt gehen.
Valganciclovir
Der neue Arzneistoff Valganciclovir ist ein alter Bekannter in neuem Gewand. Es handelt sich um das Prodrug des Virustatikums Ganciclovir. Zugelassen sind Valcyte® 450 mg Filmtabletten (Hoffmann-La Roche) zur Initial- und Erhaltungstherapie der Cytomegalievirus-bedingten Retinitis bei Aidspatienten. Wirkung und Nebenwirkungen entsprechen denen von Ganciclovir.
Vorteil des L-Valinesters: Er wird aus dem Magen-Darm-Trakt gut resorbiert und in Darmwand und Leber rasch und umfassend zu Ganciclovir metabolisiert. Die Bioverfügbarkeit liegt nach Einnahme von 900 mg Valganciclovir bei 60 Prozent im Vergleich zu 6 Prozent nach Gabe von 1000 mg Ganciclovir (Cymeven®) per os. In einer Studie mit Patienten mit neu diagnostizierter CMV-Retinitis waren zweimal täglich 900 mg Valganciclovir per os vergleichbar gut wirksam wie die zweimalige intravenöse Infusion von Ganciclovir 5 mg/kg.
Zu Beginn nehmen die Patienten 21 Tage lang zweimal täglich 900 mg Valganciclovir ein, danach (Erhaltungstherapie) nur noch einmal täglich. Bei Einnahme mit dem Essen werden höhere Serumspiegel erreicht, und die interindividuelle Variabilität nimmt ab. Ganciclovir wird vorwiegend über die Nieren ausgeschieden; daher muss die Dosis bei eingeschränkter Nierenfunktion angepasst werden. Da schwerwiegende Störungen der Blutbildung und Knochenmarkdepression auftreten können, wird eine Überwachung des Blutbildes und der Thrombozytenzahl empfohlen. Valganciclovir ist potenziell teratogen und karzinogen. Dies erfordert eine sichere Empfängnisverhütung.
Nach eigenen Angaben strebt Roche eine Zulassungserweiterung an. Danach
soll Valganciclovir auch zur Prophylaxe einer CMV-Retinitis bei Patienten
nach Organtransplantation, also bei medikamentöser Immunsuppression,
eingesetzt werden.
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