Pharmazie
Sich mit dem Thema Alzheimer-Demenz auseinanderzusetzen, unterliegt
einer gewissen Dringlichkeit. Experten prognostizieren eine Verdopplung
der Alzheimer-Fälle bis zum Jahr 2020. Die Tatsache, daß bereits jetzt in
Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen mit der Krankheit leben und daß
bei den über 85jährigen mindestens jeder Dritte die Krankheit hat, läßt
immense Kosten für Behandlung und Pflege erwarten. Kosten für die
Krankenkassen bedeuten Umsatz für die Pharmaindustrie.
Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die allgemeine Lebensweisheit gilt auch im
Pharmageschäft. Das Unternehmen, dem es gelingt, die immer komplexer
werdenden genetischen und pathologischen Zusammenhänge mit einer
Kausaltherapie zu beantworten, wird den Rahm abschöpfen. Davon ist man jedoch
derzeit noch weit entfernt. Die Werbetrommeln für neue Alzheimer-Präparate
werden zwar laut gerührt, aber letztendlich handelt es sich immer um das gleiche, nur
symptomatische Therapieschema.
Der Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit bei Alzheimer-Patienten korreliert mit
einem Untergang cholinerger Neuronen in der Großhirnrinde und im limbischen
System und damit verbunden mit einer Abnahme des Neurotransmitters
Acetylcholin. Das einzige bisher im Einsatz befindliche Therapieprinzip besteht darin,
das aus den Synapsen noch funktionstüchtiger Neuronen freigesetzte Acetylcholin
vor dem katalytischen Abbau durch die Acetylcholinesterase zu bewahren.
Die Acetylcholinesterase läßt sich auf unterschiedliche Weise inhibieren. Der erste
zugelassene Acetylcholinesterase-Hemmer Tacrin (Cognex®) und das seit Herbst
letzten Jahres erhältliche Donepezil (Aricept®) unterbinden die Enzymtätigkeit
reversibel. Metrifonat, der Arzneistoff aus der Bayer-Forschung, der Anfang
nächsten Jahres auf dem Markt erwartet wird, zerstört die Acetylcholinesterase
irreversibel. Dazwischen liegt der neue Acetylcholinesterase-Hemmer Rivastigmin,
da er das Enzym pseudoirreversibel blockiert. Rivastigmin wurde unter dem Namen
Exelon® von Novartis Anfang Juni eingeführt.
Rivastigmin ist spezifischer für das Zielenzym in den erkrankten Hirnregionen, also
Cortex und Hippocampus, als für das Zielenzym in der Peripherie. Einer kurzen
Plasmahalbwertszeit von 0,6 bis 2 Stunden steht eine lange Enzymhemmung von
zehn bis zwölf Stunden im Gehirn gegenüber. Daraus ergibt sich die zweimal tägliche
Gabe. "Im Vergleich zu Tacrin, das viermal am Tag einzunehmen ist, bedeutet das
eine bessere Compliance", wertete Professor Dr. Alexander Kurz, Psychiatrische
Klinik der Technischen Universität München.
Die Anfangsdosierung beträgt zweimal 1,5 Milligramm am Tag. Der empfohlene
therapeutische Bereich liegt zwischen zweimal drei und zweimal sechs Milligramm.
Wie bei allen cholinergen Substanzen ist auch bei Rivastigmin mit gastrointestinalen
Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen oder Diarrhoe zu rechnen. Diese
Nebenwirkungen treten nach Firmenaussagen aber vorwiegend durch eine
Dosiserhöhung auf und klingen nach kurzer Zeit spontan wieder ab. Bei der
Erhaltungstherapie lägen die gastrointestinalen Nebenwirkungen im Placebobereich.
Kompatibel mit Begleitmedikation
Rivastigmin wird direkt am Wirkort zu seinem inaktiven Metaboliten deaktiviert.
Dieser wird rasch über die Niere ausgeschieden. Das Cytochrom-P450-System der
Leber ist nur minimal beteiligt. Weil somit keine Wechselwirkungen mit anderen
Medikamenten zu erwarten sind, ist Rivastigmin kompatibel mit einer
Begleitmedikation, bietet sich also für multimorbide ältere Patienten an. "Zudem zeigt
Rivastigmin nicht die vom Tacrin bekannten Leberenzymwert-Erhöhungen und
erfordert deshalb keine Laborkontrollen", informierte Kurz.
3 300 Patienten mit leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz im Alter von
durchschnittlich 73 Jahren nahmen an der bisher größten weltweiten Studie für eine
antidementiv wirkende Substanz teil, um die Wirksamkeit und Verträglichkeit von
Rivastigmin nachzuweisen. Die Studienergebnisse wurden nach drei voneinander
unabhängigen Kriterien ausgewertet: Gedächtnisleistung, Alltagsbewältigung und
klinischer Gesamteindruck.
Die Behandlung über 26 Wochen führte zu einer signifikanten Besserung der
kognitiven Leistungsfähigkeit und des klinischen Gesamtbildes gegenüber Patienten,
die Placebo erhielten. Nach sechs Monaten zeigte sich, daß Rivastigmin bis zu fünf
Punkten auf dem ADAS-Cog-Score (Cognitive Subscale of the Alzheimer's Disease
Assessment Scale) aufweist, "den bislang deutlichsten Effekt auf die kognitiven
Fähigkeiten eines Acetylcholinesterase-Hemmers im Vergleich zu Placebo", so
Kurz. Eine Auswertung von Zweijahresdaten läßt vermuten, daß der Zuwachs an
kognitiver Leistung nahezu die Abnahme kompensiert, die beim unbehandelten
Patienten eintritt.
Den Alltag solange wie möglich meistern
Die Studienauswertung ergab, daß die Patienten in der Verumgruppe auch ihre
Alltagsaktivitäten besser bewältigen konnten. Das bedeutet die Chance, wieder
stärker am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, selbständiger zu essen und sich
anzukleiden, tägliche Aufgaben besser zu erledigen und wieder mehr Freude an
Hobbys zu haben. Letztendlich werden Pflegekräfte entlastet.
Das Herstellerunternehmen hofft auf einen protektiven Effekt von Rivastigmin, so Dr.
Jörg Liebel, Novartis. Diese Vermutung liege zwar noch im Nebel, fuße aber auf der
Tatsache, daß die Acetylcholinesterase in zwei Isoformen vorkomme. Die tetramere
G4-Form überwiegt im Gehirn von Gesunden. Sie regelt hauptsächlich den Abbau
von Acetylcholin im synaptischen Spalt. Daneben kommt in geringer Menge die
monomere G1-Isoform vor. Bei Alzheimer-Patienten dreht sich dieses Verhältnis
jedoch um. In dramatischer Weise nimmt die Konzentration an der G4-Isoform ab,
dagegen bleiben die G1-Spiegel annähernd gleich. Rivastigmin hemmt bevorzugt die
bei der Alzheimer-Demenz nicht reduzierte G1-Form der Acetylcholinesterase.
Nach den Ausführungen Liebels kann man die bevorzugte G1-Hemmung wie folgt
deuten.
Die membrangebundene G4-Form sei direkt in die Regulation der
Acetylcholin-Transmission involviert. Ein Verlust der G4-Isoform repräsentiere einen
nahezu leeren Acetylcholinpool in den Membranen und reflektiere das Stadium der
Degeneration. Dagegen sei der Abbau des Acetylcholins durch die G1-Isoform
unabhängig von der Acetycholinfreisetzung. Die bevorzugte Inhibition von
Rivastigmin könnte einen Benefit in cholinergen Mangelzuständen bedeuten, erklärte
Liebel.
Restkapazität ausschöpfen
Ein ganz profanes Problem behindert derzeit die Therapie von Alzheimer-Patienten.
Viele Hausärzte glauben, eine spezifische Therapie lohne sich nicht, war auf der
Einführungs-Pressekonferenz zu hören. Die Folge: Nur zehn Prozent der 1,2
Millionen Alzheimer-Kranken werden spezifisch therapiert. Dagegen setzten die
Ärzte einfachheithalber Ginkgo-Präparate oder Nootropika zur
Durchblutungsförderung ein. Alzheimer zu diagnostizieren koste zwar Zeit, sei aber
mit 85prozentiger Sicherheit auch zu Lebzeiten von einer Altersdemenz abzugrenzen.
Die bisher zur Verfügung stehenden Acetylcholinesterase-Hemmer können ihre
Wirkung nur dann voll entfalten, wenn sie frühzeitig eingenommen werden. Die
Gehirnstruktur geht unaufhaltsam unter, deshalb kann der Arzneistoff die cerebrale
Restkapazität nur zeitweise aufrechterhalten. In dieser Zeit schützt er aber den
Patienten vor dem Verlust der Selbständigkeit.
PZ-Artikel von Elke Wolf, Nizza
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