Pharmazie
Kombinationen
verschiedener Arzneistoffe können die Ausbreitung des
HI-Virus im Körper offenbar eindämmen. Damit scheint es
zum ersten Mal nach 15 Jahren ein erfolgreiches
Therapiekonzept zu geben. Dennoch kommt es weltweit
täglich zu etwa 8500 Neuinfektionen. Die
Weltgesundheitsorganisation prognostiziert für das Jahr
2000 etwa 40 Millionen infizierte Menschen. Etwa 70
Prozent der HIV-Infektionen werden heterosexuell
übertragen. Eine Erkrankung der Homosexuellen und
Drogenabhängigen ist AIDS schon lange nicht mehr.
Die Apothekerkammer Nordrhein griff in ihrer
Fortbildungsveranstaltung mit "HIV-Infektion und
ihre Behandlung" ein Thema auf, das zwar die meisten
Offizin-Apotheker im Alltag wenn überhaupt nur
ansatzweise beschäftigt. Trotzdem gehört das Wissen um
Pathologie und Pharmakologie der HIV-Infektion sowie
deren Konsequenzen für die Therapie zum pharmazeutischen
Allgemeinwissen.
Molekulare Pathologie und
Interventionsmöglichkeiten
Die Infektion nimmt ihren Lauf, wenn das HI-Virus an
Zellen andockt, die einen CD4-Rezeptor tragen. "Ein
spezielles Hüllprotein des Virus, gp 120, mißbraucht
den CD4-Rezeptor, um Eingang in die Zelle zu
finden", erklärte Professor Dr. Theo Dingermann vom
Institut für Pharmazeutische Biologie, Frankfurt.
Zusätzlich zum CD4-Protein wirft das Virus aber seinen
Anker noch an einem Corezeptor aus. Um in die Zelle
eindringen zu können, braucht das Virus entweder noch
spezielle Chemokininrezeptoren oder den Rezeptor für
Fuchsin, mit denen es verschmelzen kann. Neue Hoffnungen
setze man auf Chemokininrezeptoren als Targets für
Inhibititonsstrategien. Dagegen erwiesen sich
Adhäsionsmoleküle wie lösliche CD4-Rezeptoren, die das
Virus abfangen sollten, als Flop.
"Die HI-Viren gehören zu den Retroviren. Sie
verpacken ihre genetische Information in Form von RNA.
Hat sich das Virus in die Zelle eingeschlichen, wird die
RNA mit einem eigens importierten Enzym, der Reversen
Transkriptase, in DNA umgeschrieben. Dann wird das virale
Genom in das Wirtszellengenom integriert: Ein
irreversibler Prozeß, weil das Virusgenom zu einem nicht
mehr unterscheidbaren Teil der genetischen Information
der infizierten Zelle geworden ist. Der
Infektionsmechanismus macht klar, warum es für die
Therapie sinnvoll ist, die Reverse Transkriptase (RT) zu
hemmen. Die Inhibition kann auf zweierlei Weise erfolgen.
Das bekannteste Prinzip der RT-Hemmung wird nach den
Worten Dingermanns durch Kettenabbruch-Nukleotide
erreicht. Sie erreichen auf kompetitive Weise die
Enzymhemmung. Das sind: Retrovir (Zidovudin, AZT), Hivid
(Zalcitabin, ddC), Videx (Didanosin, DDI), Zerit
(Stavudin, D4T) und Epivir (Lamivudin, 3TC). Eine relativ
neue Stoffklasse sind die nichtnukleosidären Inhibitoren
der RT, nicht-kompetitive Hemmstoffe des Enzyms. Weil sie
die RT an anderer Stelle attackieren als die
Nukleosidanaloga, sind Kreuzresistenzen unwahrscheinlich,
leitete Dingermann ab. Zwei Arzneistoffe aus dieser
Gruppe stehen kurz vor der Zulassung: Nevirapin und
Lovirid. Außerdem werden Proteasehemmer eingesetzt. Die
HIV-Protease ist ein Schlüsselenzym beim Heranreifen
neuer Viren. Es ist für die Fertigstellung des viralen
Kerns und zahlreicher virusspezifischer Proteine
zuständig. Wird das Enzym inhibiert, können sich nur
noch nicht-infektiöse Viren bilden. Drei Proteasehemmer
sind bereits zugelassen: Crixivan (Indinavir), Norvir
(Ritonavir) und Invirase (Saquinavir).
"Je besser die therapeutischen Möglichkeiten, desto
wichtiger wird die Diagnostik." Dingermanns
Begründung: Die Arzneistoffe seien extrem rational
entwickelt worden. Die vornehmlich gegen HIV-1
entwickelten Therapeutika zeigten gegenüber HIV-2
Schwächen, weil sich aufgrund der Unterschiede im Genom
auch die Proteine - und damit die Ziele für die
Arzneimittel - unterscheiden. Der Epidemiologie komme
also eine entscheidende Rolle zu. Die beiden bisher
bekannten HIV-Typen 1 und 2 sind nur sehr weitläufig
miteinander verwandt. Beide sind zwar Retroviren und
stammen wahrscheinlich von Affenviren ab (der nächste
Verwandte von HIV-1 ist ein Schimpansenvirus, der von
HIV-2 ein Mangabenvirus), aber ihr Genom ist nur zur
Hälfte homolog. Das hat zum Beispiel zur Folge, daß die
Erkrankung durch den HIV-2 Erreger weniger progressiv
verläuft. "Zehn Jahre nach einer HIV-2-Übertragung
zeigt noch keiner der Patienten Krankheitssymptome,
während HIV-1-Infizierte nach sechs Jahren zu 70 Prozent
an AIDS erkranken", verdeutlichte Dingermann.
Dingermann erläuterte, daß sich ein Retrovirus zwar
nicht mehr aus dem Genom einer infizierten Zelle
entfernen lasse, die moderne HIV-Therapie mit drei
Arzneistoffen habe aber gezeigt, daß infizierte Zellen
nicht unsterblich seien. Ziel sei es, die Virusvermehrung
im Organismus solange therapeutisch zu unterdrücken,
daß die infizierten Zellen im Patienten irgendwann
aussterben.
Antiretrovirale Chemotherapie: Umsetzung in der
Praxis
"Seit letztem Jahr hat sich das
Krankheitsverständnis erweitert", erläuterte Dr.
Heinrich Rasokat, Universität Köln, das Umdenken in der
HIV-Therapie. "Begriffe wie klinische Latenz und
virologische Aktivität sind jetzt erst klar
geworden." Direkt nach der Infektion disseminiert
das HI-Virus in die lymphatischen Gewebe, in dieser Phase
zeigen die Infizierten unspezifische Symptome. Es
schließt sich die Latenzphase an, in der der Patient
klinisch asymptomatisch ist. Er fühlt sich subjektiv
gesund. In Wirklichkeit aber "bietet der Organismus
in dieser Phase alles auf, was er hat", machte
Rasokat klar.
Die Tatsache, daß Viren im Serum nur in geringen
Konzentrationen nachweisbar sind, ist trügerisch. Denn
es verbirgt sich dahinter eine ungeheure
Replikationsdynamik: Täglich werden Milliarden von Viren
gebildet, deren Lebenszeit allerdings nach maximal zwei
Tagen schon wieder abgelaufen ist. Das Gleichgewicht
zwischen neu gebildeten und vernichteten Viren läßt
irrtümlich glauben, die Virusbelastung sei niedrig. Die
Viruslast des Patienten und die CD4-Zellzahlverminderung
ist für die Prognose der Erkrankung von Bedeutung. Auch
die CD4-Lymphozyten sind einem ständigen Wandel
unterworfen, täglich reifen und vergehen Milliarden von
CD4-Zellen. Kommt die Aids-Erkrankung zum Ausbruch, nimmt
die CD4-Lymphozytenzahl/µl stetig ab.
"Es wäre fatal, wenn man mit der Therapie bis zur
Dekompensation des Immunsystems warten würde",
warnte Rasokat. Die Behandlung muß in der klinischen
Latenzphase einsetzen. Ziel der Therapie ist es, die
Virusproduktion unter die Nachweisgrenze - das sind
weniger als 200 Kopien pro ml - zu drücken. Während man
noch vor zwei Jahren die CD4-Zellzahl als
Kontrollparameter für die Therapie heranzog, arbeitet
man heute hauptsächlich mit der Viruslast. Die
Aussagekraft der CD4-Zellzahl liegt nach den Worten
Dingermanns bei 30 Prozent, dagegen ist mit der Viruslast
eine Prognose für den weiteren Verlauf zu 70 Prozent
möglich. Die Kombination beider Parameter erlaubt eine
Vorhersage sogar mit 80prozentiger Sicherheit.
Am effektivsten behandelt man heute mit einer
Dreifachkombination, bestehend aus zwei Nukleosidanaloga
plus einem Proteaseinhibitor. Die Chance, das Virus in
seiner Replikation wirkungsvoll aufzuhalten, ist am
größten, wenn man die viralen Enzyme von verschiedenen
Seiten attackiert. So früh wie möglich in der
Latenzphase in hohen Dosen eingesetzt, zeigt die
Tripeltherapie praktisch keine Resistenzen.
"Was in der Retorte gut klappt, läßt beim Menschen
in der Praxis noch zu wünschen übrig", sagte
Rasokat. Der Umgang mit den drei Arzneistoffen "ist
nicht ganz einfach". Unter den Stoffen der
Dreierkombinationen und zu anderen Medikamenten (und
seien es auch nur Antihistaminika) gibt es zahlreiche
Interaktionen. Besonders die gegenseitige Beeinflussung
durch den P450 Metabolismus ist klinisch relevant. Die
Pharmakokinetik der Arzneistoffe und der
Begleitmedikation wird teilweise erheblich verändert.
Beispiel: Kombiniert man Ritonavir und Saquinavir, wird
die Bioverfügbarkeit von Saquinavir um den Faktor 20
gesteigert! Deshalb verlangt die Tripeltherapie ein
individuelles, kompliziertes Einnahmeschema, das in der
Klinik mit dem Patienten erarbeitet wird. Täglich
zwanzig Tabletten sind keine Seltenheit. Die Arznei muß
in minutiösem Abstand und abhängig von den Mahlzeiten
eingenommen werden. Nebenwirkungen wie Diarrhoe,
Übelkeit, Fieber, Schlaflosigkeit oder starke kutane
Reaktionen erschweren die Situation zusätzlich.
PZ-Artikel von Elke Wolf, Düsseldorf
© 1997 GOVI-Verlag
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