Pharmazie
Innerhalb von zehn Jahren gelang es Wissenschaftlern eine neuartige
Klasse von Wirkstoffen zu entwickeln. Die Anwendung von
Antisense-Therapeutika in Transplantationsmedizin und Krebstherapie
standen im Mittelpunkt eines Symposiums auf dem zweiten Kongreß für
Molekulare Medizin Anfang Mai in Berlin.
Antisense-Therapeutika stellen eine neue Klasse von Pharmazeutika dar. Die
neuartigen Wirkstoffe binden hochspezifisch an eine Ribonukleinsäure (RNA) und
verhindern damit den Informationsfluß vom Gen zum Protein. Die Synthese
bestimmter Genprodukte wird vereitelt, denn die Anlagerung der
Antisense-Wirkstoffe an die Ziel-RNA bewirkt die Zerstörung des doppelsträngigen
Komplexes durch ein spezielles Enzym - die RNase H. Die neuen Therapeutika sind
kurze synthetische Abschnitte, sogenannte Oligonukleotide der DNA- oder
RNA-Moleküle, die aus 15 bis 25 Bausteinen bestehen. Die
Antisense-Verbindungen agieren selektiv und kommen auch in der
Arzneimittelforschung zur Identifizierung von geeigneten Zielmolekülen zum Einsatz.
Eine größere Bedeutung erlangten sie mittlerweile in der Therapie.
Besonders beachtet wird ein Antisense-Oligonukleotid, das die spezifische
Zerstörung der Bauanleitung von ICAM-1(intercellular adhesion molecule) einleitet.
Zellen des Epithelgewebes bilden das Protein ICAM-1 bei entzündlichen Prozessen.
Die Zellschichten des Epithels seien besonders gut zugänglich und aufnahmefähig für
die Antisense-Moleküle - auch nach systemischer Gabe, erklärte Professor Dr.
Hermann Haller, Berlin. Gegen ICAM-1 gerichtete Antisense-Moleküle befinden
sich deshalb mittlerweile in zahlreichen klinischen Studien unter anderem gegen
Schuppenflechte, rheumatoider Athritis, Morbus Crohn und bei
Nierentransplantationen.
Eine neuartige Anwendung ICAM-1 spezifischer Antisense-Oligonukleotide
erprobte Haller bei Lebertransplantationen erfolgreich am Tiermodell. Während viele
Forscher einer Reihe von Antisense-Verbindungen auch unspezifische Wirkungen
zuschreiben, kümmerte sich Haller nicht um den genauen Wirkmechanismus. "Wir
gingen nach Versuchen an Zellkulturen direkt in ein Tiermodell." Der Arbeitsgruppe
von Haller am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin gelang es durch die
Gabe von Antisense-Verbindungen die organschädigenden Prozesse bei der
Lebertransplantation von Ratten weitgehend zu eliminieren. Das Lebergewebe büßt
durch die Unterbrechung der Blutzufuhr bei einer Transplantation und anschließender
Reperfusion an Funktion ein.
Auch nach Transplantationen von gesunden Lebern verlieren die Organe 20 bis 30
Prozent ihrer Kapazität durch das Einschwämmen angestauter Zellen und
Metabolite. Deshalb verabreichten die Mediziner sechs Stunden vor Organentnahme
den Nagern Anti-ICAM-1-Oligonukleotide. Nach den autologen Transplantationen
wiesen die Organe der Antisense-behandelten Tiere keinerlei Infiltration mit
Monozyten auf. Auch die histologischen Befunde überzeugten Hallers
Arbeitsgruppe. Das transplantierte Gewebe der Ratten, denen vorab
Antisense-Oligonukleotiden verabreicht wurden, wies keinerlei Schädigungen auf
und hatte nicht an Funktionstüchtigkeit eingebüßt. Die Antisense-Behandlung möchte
Haller demnächst in der Klinik an humanen Lebern von älteren Spendern prüfen.
Die Untersuchungen zur Antisense-Therapie von Tumorerkrankungen stecken noch
in den Anfängen. Dr. Bryone J. Kuss vom Londoner Institute of Child Health
präsentierte Ergebnisse einer klinischen Studie der Phase I, in der Patienten mit
Non-Hodgkin-Lymphomen Antisense-Therapeutika erhalten hatten. Die
Krebskranken litten unter einer Chemotherapie-resistenten Form des Lymphoms.
Aufgrund eines zu hohen Spielgels des BCL-2 Eiweißstoffes sterben die Krebszellen
nicht am programmierten Zelltod (Apoptose).
Bei vier Patienten gingen die Symptome nach zweiwöchiger Antisense-Gabe zurück.
Anschließend erhielten acht Patienten erneut eine Chemotherapie, die bei den
meisten zu einem partiellen Rückgang des Lymphoms führte. Allerdings resultierte
aus der Antisense-Therapie in einigen Fällen eine starke Verminderung der
Thrombozyten im Blut, erläuterte Kuss.
Mittlerweile entwickelt die englische Arbeitsgruppe Antisense-Moleküle, um die
Synthese eines speziellen glykosylierte Eiweißstoffes (Multidrug resistence protein)
zu stoppen. Dieses Membranprotein verhindert die Wirkung eines sehr breiten
Spektrums von Cytostatika.
Auch zur Therapie einer besonders agressiven Form der Hirntumore, dem
Glioblastoma, eignen sich mittlerweile Antisense-Oligonukleotide. Die Verbindung
inhibiert im Reagenzglas die Synthese des Tumor-Growth-Factor (TGF-ß2), der die
Immunzellen daran hindert, Krebszellen anzugreifen. "Zur Behandlung dieser Tumore
gibt es keine therapeutischen Alternativen", so Dr. Karl-Hermann Schlingensiepen
von der Göttinger Firma Biognostik, die die Antisense-Moleküle entwickelte.
Deshalb ist für nächstes Jahr eine klinische Studie der Phase I/II an zwölf Patienten
in Kooperation mit der Universität Regensburg geplant. Die
Antisense-Verbindungen sollen mit Hilfe der Implantation eines Katheders unter der
Kopfhaut zum Tumorgewebe gelangen.
Die Forschung mit den neuartigen Therapeutika erobert immer weitere Gebiete.
Professor Dr. Hermona Soreq von der Universität Jerusalem entwickelte
Antisense-Moleküle für die Erforschung der Alzheimer-Krankheit. Zur Zeit testen
die Wissenschaftler die Wirkung der neuartigen Moleküle auf die
Erinnerungsfähigkeit von Mäusen.
PZ-Artikel von Angela Haese, Berlin
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