Pharmazie
Sollen Mediziner weiterhin früh mit einer hochaktiven antiretroviralen
Therapie beginnen, um die Klone der HIV-spezifischen cytotoxischen
CD4-Lymphozyten zu erhalten, oder ist ein verzögerter Einsatz vorzuziehen,
um die Gefahr des vorzeitigen Verlustes der therapeutischen Optionen zu
vermeiden? Das Dilemma der Ärzte in der Therapie der HIV-Infektion
schilderte Dr. Jörg Gölz, Berlin, während einer Pressekonferenz der
Glaxo-Wellcome am 30. April 1998 in Hamburg.
Sowohl die Bestimmung der Virusbeladung als entscheidender prognostischer
Faktor als auch die Einführung der Protease-Inhibitoren brachten zum Jahreswechsel
1995/96 in der Behandlung der HIV-Infektion eine entscheidende Wende. Auf der
11. World Aids Conference 1996 in Vancouver formulierten Wissenschaftler das
neue therapeutische Paradigma "Hit hard and early" mit dem Ziel, das Virus
innerhalb von drei Jahren zu eliminieren.
Mit den Dreifachkombinationen aus zwei Nukleosidanaloga, sprich: Reverse
Transkriptase-Inhibitoren (Zidovudin, Lamivudin, Didanosin, Zalcitabin, Stavudin)
und einem Protease-Hemmer (Indinavir, Nelfinavir, Ritonavir, Saquinavir) oder
einem nicht-nukleosidischen RT-Inbibitor (Nevirapin, Delavirdin) als Goldstandard
habe sich das Bild in den HIV-Schwerpunktpraxen fundamental verändert, betonte
Gölz. Es sei eine dramatische Reduktion der HIV-assoziierten Erkrankungen, der
opportunistischen Infektionen und Tumoren, der stationären Aufenthalte und der
Sterberate sowie ein außergewöhnlicher Gewinn an Lebensqualität, Lebensmut und
Lebensfreude der Patienten zu verzeichnen.
Aufgrund der komplizierten Therapieregimes mangele es jedoch bei einem großen
Teil der Betroffenen an Compliance. Die Möglichkeiten der Kombinationstherapien
seien schneller erschöpft als Studien erwarten ließen. Viele Patienten drohen nach
Nutzung des vorhandenen therapeutischen Medikamentenarsenals in therapeutische
"Löcher" zu fallen, bevor neue Medikamente verfügbar sind, betonte der Referent.
Die Einführung fixer Wirkstoffkombinationen wie Combivir (Lamivudin und
Zidovudin) zum 1. April 1998 sei zu begrüßen, da durch Verringerung der täglichen
Tablettenbelastung die Compliance verbessert und die Resistenzentwicklung
verzögert werden kann.
Heute wisse man, daß eine Virus-Eradikation mit den vorhandenen Substanzen nicht
gelingt. Die antiretrovirale Therapie sei nicht in der Lage, infizierte Zellen zu
erreichen, die ruhend in verschiedenen Körperkompartimenten versteckt sind. Im
Moment herrsche Unsicherheit über die richtige therapeutische Strategie. Ein Teil
der Ärzte halte am Paradigma "Hit hard and early" fest und begründe dieses mit dem
Erhalt der HIV-spezifischen cytotoxischen Lymphozyten - der vom Körper in der
Anfangszeit gebildeten potenten Abwehr, die im Laufe der Infektion verloren geht.
Zwar werde der kombinierte Einsatz mit Interleukin diskutiert, um ruhende infizierte
Zellen zur Virusbildung anzuregen und damit eine Eradikation zu erreichen, doch
plädiere ein anderer Teil der Therapeuten für den nicht zu frühen Einsatz der heute
üblichen antiretroviralen Therapie: Die Kombinationstherapien seien nicht als
Durchbruch zur Heilung der HIV-Infektion zu verstehen. Sie ermöglichen lediglich
den Aufschub der Krankheitsprogression, mit dem die Patienten in eine Zeit neuer
Strategien hinüber gerettet werden können, so Gölz.
In Deutschland stehen zur Therapie von HIV-Infektionen derzeit elf Medikamente
zur Verfügung; weitere sind in der Erprobung. Als vielversprechende Substanzen
bezeichnete Dr. Angela B. Maas, Hamburg, den Reverse-Transkriptase-Inhibitor
Abacavir sowie den Protease-Hemmer Amprenavir. Die zwei Substanzen befinden
sich derzeit in der klinischen Prüfung. Ihre Zulassung in Europa und den USA soll
noch innerhalb dieses Jahres beantragt werden.
Getestet werde unter anderem die Kombination aus Abacavir, Lamivudin (3TC) und
Zidavudin (AZT). Günstig sei, daß alle drei Substanzen nur zweimal täglich
eingenommen werden müssen. Diese Dreifach-RTI-Therapie könnte eine Alternative
zu Protease-Inhibitor-haltigen Therapieregimes darstellen, so Maas.
Die Zukunft des Patientenmanagements bei der HIV-Infektion werde ganz
wesentlich von der quantitavien Bestimmung der Virus-RNA durch PCR, bDNA
und NASBA mit paralleler Analyse eventuell unwirksamer Medikamente durch
genotypische oder phänotypische Resistenzbestimmung und einer darauf
abgestimmten antiretroviralen Therapie geprägt. Regelmäßige Kontolluntersuchungen
stellen die Wirksamkeit der momentanen Kombinationstherapie sicher. so Dr. Heiko
Petersen, Hamburg
Von den 50.000 bis 60.000 HIV-Infektionen in Deutschland sind zu 80 Prozent
Männer betroffen. Seit 1982 wurden 17.283 AIDS-Fälle gemeldet, von denen
11.099 verstorben. Die Zahl der Neuinfektionen beträgt 2000 bis 2500 pro Jahr.
PZ-Artikel von Christiane Berg, Hamburg
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