Pharmazie
"Wie oft bestimmt Ihr Arzt den Blutzucker- oder HbA1c-Wert?"
"Untersucht er, ob eine Mikroalbuminurie vorliegt?" "Schickt er Sie
regelmäßig zum Augenarzt?" - Mit solchen Fragen könne der Apotheker
Diabetiker auf notwendige Maßnahmen aufmerksam machen, sagte Dr.
Michael Jecht, Diabetologe am Krankenhaus Havelhöhe, Berlin, auf einer
Fortbildungsveranstaltung der Berliner Apothekerkammer zum Thema
Diabetes. Denn obwohl fast fünf Prozent der Bevölkerung an Diabetes
erkrankt sind, wird die Krankheit nicht überall konsequent genug behandelt.
Fatal sind vor allem die Begleiterkrankungen.
Lange bevor Diabetes oder Ateriosklerose diagnostiziert werden, verändert sich
unter dem Einfluß von Glucose der Stoffwechsel und damit die Gefäßstruktur. Sind
die Zuckerspiegel im Blut erhöht, bleiben Leukozyten leichter an der Gefäßwand
haften, erklärte Professor Dr. Hermann Haller, vom Max-Delbrück-Centrum in
Berlin Buch. Adhäsionsvermittler wie Selektine oder Integrine werden stimuliert,
möglicherweise weil Glucose die Signaltransduktion über Diacylglycerol und
Proteinkinase C beeinflußt.
Auch die Permeabilität ändert sich unter dem Einfluß von Glucose. Massiv treten
Albumin und Wachstumsfaktoren ins Blut über, proliferative Vorgänge in
verschiedenen Organen werden stimuliert. Und schließlich stört Glucose auch die
Regelung des Gefäßtonus über Stickstoffmonoxid (NO). Langfristig schädigt
insbesondere die nicht-enzymatische Glycosylierung verschiedener Proteine die
Gefäße. Zuerst bilden sich reversible Amadori-Produkte, die langlebige Proteine
irreversibel zu Advanced-Glycosylation-End-Products (AGE) umwandeln. Bilden
sich solche AGEs an den Gefäßwänden, kommt es zu Quervernetzungen der
Kollagenbestandteile. Potentielle Risikofaktoren verweilen deshalb länger in der
Gefäßwand und richten noch größeren Schaden an.
Kurzfristige und langfristige Effekte kumulieren, der Blutzucker sollte daher möglichst
eng kontrolliert werden, warnte Haller. Aber nicht jeder Patient müsse seinen
Blutzucker ständig selbst bestimmen, sagte Jecht. Wer aus der Messung einen
Schluß zieht, also vor allem Patienten unter einer intensivierten Insulin-Therapie
(zwei- bis dreimal täglich Basalinsulin und vor den Mahlzeiten Normalinsulin), sollte
dreimal vor den Hauptmahlzeiten und einmal vor dem Schlafengehen den Blutzucker
messen. Für Patienten unter einer Therapie mit oralen Antidiabetika sei es sinnvoller,
ab und zu den Urinzucker zu bestimmen.
Orale Antidiabetika und Insulin
"Wir verschreiben in der Klinik fast nur noch Insulin", sagte Jecht. Das verbessere
meist entscheidend die Lebensqualität und "der Patient kann aktiv in die Therapie
einsteigen". Er ging aber auch auf orale Antidiabetika ein: Acarbose senkt den
HbA1c-Wert maximal um ein Prozent, wirklich gute Belege für die Wirkung gebe es
nicht. Auch fehlten Langzeitstudien, die über die Dauer eines Jahres hinausgingen.
Die Nebenwirkungen, Meteorismus, Flatulenz und Durchfall, könnten bei
einschleichender Dosierung vermindert werden. Dennoch sei die Compliance
schlecht. Wegen der Gefahr einer (oft tödlichen) Lactatacidose dürfe das Biguanid
Metformin nie angewendet werden bei: Niereninsuffizienz (Kreatinin > 1,2 mg/dl),
respiratorischer Insuffizienz, Herzinsuffizienz, peripherer arterieller
Verschlußkrankheit, schwerer Cerebralsklerose, Alkoholkrankheit, Multimorbidität
und auch nicht bei hohem Alter.
Wegen der Gefahr schwerer Hypoglykämien muß eine Therapie mit
Sulfonylharnstoffen mit schwächer wirksamen Präparaten (Tolbutamid, Glipizid) und
einschleichend begonnen werden. Die Patienten sollten außerdem ihre Mahlzeiten
auf sechs Portionen am Tag verteilen. Wird ein Patient von Glibenclamid auf Insulin
umgestellt, ist zu berücksichtigen, daß Hypoglykämien auch noch fünf Tage nach
Absetzen des Medikamentes auftreten können.
Für Repaglinid werde noch in diesem Jahr die Zulassung erwartet, sagte Jecht. Es ist
mit kurzwirksamen Sulfonylharnstoffen vergleichbar. Maximale Wirkspiegel werden
nach 30 Minuten erreicht, die Halbwertzeit liegt bei einer Stunde. Es ist kurz vor
dem Essen einzunehmen.
Therapie der Spätfolgen
Spätfolgen durch Gefäßveränderungen: Das kann Retinopathie, Nephropathie,
koronare Herzerkrankung, Schlaganfall, Hyperlipidämie oder diabetischer Fuß
bedeuten. Diabetische Retinopathien sind bei uns häufigste Ursache für eine
Erblindung. Bei optimal eingestellten Zuckerwerten sei eine Sekundär-Prävention
möglich, sagte Dr. Albrecht Fießelmann, Oberarzt im
Auguste-Viktoria-Krankenhaus, Berlin. Laserbehandlungen brächten keine
Besserung, könnten aber ein Fortschreiten der Erkrankung verhindern. Für die
Wirkung vasoaktiver Substanzen wie Dexium gebe es keine ausreichenden Belege.
30 bis 70 Prozent aller Dialysepatienten sind Diabetiker. Die Nephropathie, zu
erkennen an einer Albuminurie, ist im Frühstadium (Mikroalbuminurie) noch heilbar.
Liegt eine Makroalbuminurie (über 24 Stunden mehr als 300 mg Albumin) vor, ist
höchstens der Status quo zu halten. Neben dem Blutzucker muß vor allem der
Blutdruck überwacht und gesenkt werden.
Betablocker seien bei Diabetikern mit koronarer Herzerkrankung oder nach
Myokardinfarkt Mittel erster Wahl, meinte Fießelmann. ß1-selektive Medikamente
wie Metoprolol oder Isoprolol seien zu bevorzugen, Carvedilol könne bei
peripheren arteriellen Verschlußkrankheiten erwogen werden. Diabetiker mit
Herzinsuffizienz sollten mit ACE-Hemmern und Diuretika behandelt werden.
Calciumantagonisten vom Dihydropyridin-Typ bewertete Fießelmann kritisch; am
ehesten seien Verapamil oder Diltiazem geeignet.
Zucker - in Maßen erlaubt!
Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft erlaubt seit drei Jahren auch Saccharose auf
dem Speiseplan der Diabetiker. Allerdings nur in Kombination mit Fetten (Kuchen,
Kekse, Schokolade), da Fett die Resorption verzögert, erklärte Elke Millet,
Diabetesberaterin am Klinikum Havelhöhe, Berlin. Natürlich muß der Zuckeranteil
entsprechend berechnet werden: 12 Gramm Zucker sind eine Broteinheit.
Patienten trauen sich oft nicht an normale Süßwaren heran, da die
Kohlehydratmengen nicht angegeben sind. Es gebe aber Literatur, in der auch zu
verschiedenen Fertigprodukten Werte aufgeführt seien, sagte Millet. Es sei immer
noch besser, richtige Schokolade berechnet und in Maßen zu sich zu nehmen, als
heimlich eine Tafel Diätschokolade zu verschlingen. "Sobald 'Diät' draufsteht, gibt es
bei manchen Leuten kein Halten mehr". Millet verbietet Diät-Produkte zwar nicht,
aber sie empfiehlt sie auch nicht mehr.
Wer sich Normalinsulin spritzt (intensivierte Insulintherapie) oder über eine Pumpe
zuführt, muß den Zuckeraustauschstoff Fructose aus den Mengenangaben auf der
Packung herausrechnen, wenn Fructose in Kombination mit Fetten vorliegt.
Fruchtzucker wird in dieser Form so spät resorbiert, daß die Insulinwirkung eintritt,
bevor die Fructose verstoffwechselt ist. Millet rechnete vor: Enthalten 100 Gramm
Diätschokolade 30 Gramm Fructose von insgesamt 46 Gramm Kohlenhydraten,
bleiben nur 16 Gramm blutzuckererhöhende Kohlehydrate übrig. Statt wie
angegeben 4 enthalten 100 Gramm Schokolade dann nur 1,5 BE. Die
Kalorienmenge bleibt allerdings gleich, so daß mit weniger Broteinheiten jetzt mehr
Kalorien zugeführt werden.
Quelle: PZ-Artikel von Stephanie Czajka, Berlin
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