Pharmazie
Ketamin:
Innovatives und Visionäres
über ein chirales Pharmakon
Ketamin, ein Derivat des
Phencyclidins ist ein Arzneistoff mit vielen Gesichtern.
Das Racemat wird als Analgetikum, Narkotikum und zur
Therapie des Status asthmatikus eingesetzt. Die Trennung
des chiralen Pharmakons in seine Enantiomere führt zu
einem Arzneistoff, der ein anderes pharmakodynamisches
Wirkprofil aufweist. Durch das neue
"Super-Ketamin", das sich derzeit in der
letzten Stufe des Zulassungsverfahrens befindet und 1997
in den Markt eingeführt werden soll, könnten sich neue
therapeutische Ansätze ergeben.
Ketamin liegt derzeit als Racemat (Ketanest
©) vor und ist strukturell
mit dem halluzinogenen Suchtstoff Phencylcidin verwandt.
Die Wirkung des Racemats und seiner Enantiomere erklärt
sich durch die Interaktion mit drei unterschiedlichen
Bindungsstellen: Opiat-Rezeptoren, NMDA-Rezeptoren und
PCP-Rezeptoren.
Die Substanz ruft eine reversible Schmerzausschaltung,
eine Sedierung und eine gewisse Amnesie hervor. Der
analgetische Effekt bleibt auch nach Abklingen der
Anästhesie erhalten. Der Patient fällt nach der Gabe in
einen schmerzfreien, tranceähnlichen Zustand, bei dem
die Augen geöffnet bleiben können. Bei niedrigen Dosen
bleibt der Patient bedingt ansprechbar (dissoziative
Anästhesie). Schutzreflexe und Spontanatmung bleiben
unter Ketamin erhalten. Lediglich bei Anwendung sehr
hoher Dosen und bei sehr rascher Applikation kann eine
Beatmung indiziert sein.
Indikationen
O Einleitung und
Durchführung einer Allgemeinanästhesie in Kombination
mit anderen Pharmaka, zum Beispiel Hypnotika
O Kurznarkotikum für
diagnostische und therapeutische Eingriffe
O In der Notfallmedizin zur
Befreiung eingeklemmter Patienten
O Zur Analogsedierung bei
Patienten mit Volumenmangelschock
O Zur Supplementierung von
Regionalanästhesien
O Low dose zur Analgesie,
beispielsweise bei Morphin-Resistenz bei
Karzinompatienten
O Analogsedierung
intubierter oder spontan atmender Patienten
O Adjuvants bei nicht (mehr)
ausreichender Regionalanästhesie
O Prämedikation bei
inkooperativen Patienten
O Behandlung eines
therapieresistenten Status asthmaticus
Neuroprotektion durch S(+)-Ketamin?
Die exzitatorischen Aminosäuren werden in der
Frühphase der Unterbrechung der cerebralen
Blutversorgung ausgeschüttet. Glutamat stellt den im ZNS
wichtigsten erregenden Transmitter dar. Eine erhöhte
Konzentration im Extrazellulärraum des Gehirns hingegen
führt zu einem Untergang von Nervenzellen und zur
Schwellung von Nerven- und Gliazellen. Dieses Paradoxon
führte zu dem Begriff "Exzitoxin". Mindestens
fünf Rezeptoren für Glutamat sind derzeit
differenzierbar. Bindet ein Ligand an den NMDA-Rezeptor,
kommt es zu einer Öffnung von Ionenkanälen für
Ca2+-Ionen, die zu einer zytotoxischen Reaktion führen.
S(+)-Ketamin wirkt als nicht-kompetitiver NMDA-Antagonist
und wirkt so zumindest partiell einem hypoxischen
Geschehen entgegen. Das Pharmakon kann somit auch als
Exzitotoxin-Antagonist angesehen werden. Es läßt sich
noch nicht abschätzen, welchen Rang dieser Effekt im
therapeutischen Bemühen einer Neuroprotektion einnehmen
wird. Derzeit laufen klinische Studien bei
Schädel-Hirntrauma-Patienten. Auch der Einsatz beim
Hirninfarkt, dem apoplektischen Insult, erscheint
hypothetisch denkbar.
Einige Studien sprechen zusätzlich von einem Abfangen
freier Radikale, die ebenfalls neurotoxisch wirken, sowie
von einer cerebralen sympatholytischen Wirkung und einer
Steigerung des Dopaminabbaus im Nucleus caudatus.
Faszinierend ist jedoch mit Sicherheit die Tatsache, daß
das Enantiomer eines Arzneistoffes bei Erkrankungen
Anwendung finden kann, bei denen das Racemat teilweise
kontraindiziert ist.
Ausblick auf mögliche Indikationen
Ketamin hemmt im Tierversuch (Kaninchen) die
NMDA-Rezeptor-vermittelte Ausschüttung von Acetylcholin.
Die dazu benötigte Dosis liegt weit unter der
anästhetisch und analgetisch wirksamen Konzentration. Da
die Modulation des Neurotransmitters Acetylcholin in
einem kausalen, pathophysiologischen Zusammenhang mit
Morbus Parkinson steht, könnten sich durch das potente
S(+)-Ketamin diesbezüglich neue therapeutische Ansätze
ergeben.
Auch die etablierten Pharmaka Memantin und Amantadin
wirken nach neueren Erkenntnissen durch eine Modulation
am NMDA-Rezeptor. S(+)-Ketamin zeigt, im Gegensatz zum
R(-)-Enantiomer einen sogenannten
"Use-dependent-Effekt". Das heißt, daß die
durch den Antagonisten bedingte, prozentuale Verminderung
des Effektes einer bestimmten NMDA-Konzentration mit
steigender Menge von NMDA zunimmt. Dieser
nicht-kompetitive use-dependent Antagonismus läßt sich
auch bei Amantadin und Memantin nachweisen. Besonders in
der Parkinson-Krise spricht der Patient auf dopaminerge
Substanzen kaum an und ist durch das gestörte
Schluckvermögen nicht in der Lage, Pharmaka oral
einzunehmen. Hier könnte S(+)-Ketamin i.v. verabreicht
wirksam sein.
Bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma und beim Schlaganfall
ist das Ketamin-Racemat wegen seiner hirndrucksteigernden
Nebenwirkung kontraindiziert. Diese negative Komponente
fehlt dem S(+)-Ketamin weitgehend. Da beide
Krankheitsbilder pathophysiologisch mit einer neuronalen
Schädigung verknüpft sind, liegt es nahe, den
neuroprotektiven Effekt des Enantiomers hier zu
untersuchen.
Tierexperimentell konnte ein antikonvulsiver Effekt des
Ketamins nachgewiesen werden. Dem Racemat werden in
einigen Studien jedoch auch prokonvulsive Wirkungen
zugeschrieben. Zumindest ergibt sich durch S(+)-Ketamin
ein Ansatz, das Pharmakon auf die Indikation Epilepsie
hin zu untersuchen.
PZ-Artikel von Matthias Bastigkeit, Lübeck
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