Pharmazie
Eigentlich ist Amifostin schon alt. Entdeckt wurde das Thiophosphat in
den fünfziger Jahren bei der Suche nach Substanzen, die den Körper bei
einem radioaktiven Fallout schützen können. Später beobachtete man, daß
Amifostin gesunde Zellen vor Organ- und Gewebeschäden durch Zytostatika
und ionisierende Strahlen schützt, ohne die antitumorale Wirkung zu
mindern.
Seit 1995 ist es zugelassen zur Reduktion der hämatologischen Nebenwirkungen
sowie der Nephro- und Neurotoxizität von Platin-haltigen Therapien. Aufgrund guter
Studiendaten soll die Indikation erweitert werden.
Das Thiophosphat ist ein Prodrug, das durch die membranständige alkalische
Phosphatase zur Wirkform des Aminothiols gespalten wird. Dieses fängt in der Zelle
freie Radikale ab, die durch ionisierende Strahlen oder durch Anthrazykline
entstehen, interagiert mit dem elektrophilen Reaktionszentrum von Alkylantien und
Platinderivaten und trägt als Wasserstoffdonator zur Reparatur von DNA-Schäden
bei. Außerdem soll der aktive Metabolit das p53-Gen aktivieren und das
myk-Onkogen dämpfen, erläuterte Privatdozent Dr. Carsten Bokemeyer, Oberarzt
am Universitätsklinikum Tübingen, bei einer Pressekonferenz der Essex Pharma am
Starnberger See.
Wie entsteht die Selektivität?
Gesunde Zellen haben eine höhere Aktivität an alkalischer Phosphatase, einen
höheren, das heißt normalen pH-Wert und sind besser vaskularisiert. So wird der
Arzneistoff von gesunden Zellen viel schneller aufgenommen und metabolisiert als
von Tumorzellen. Bevorzugt reichert er sich in Leber, Niere, Darm, Herz, Lunge,
Knochenmark und den Speicheldrüsen an.
Der Schutzeffekt vor neuro- und nephrotoxischen Nebenwirkungen von Cisplatin ist
erwiesen; unklar ist, ob das Thiol die Ototoxizität mindert. Auch die neurotoxische
Wirkung von Taxanen scheint es abzufangen. Aktuelle Studien sollen zeigen, ob es
Kardiomyopathien durch Anthrazykline und die pulmonale Toxizität, vor allem von
Bleomycin, mildern kann. Möglicherweise steigert Amifostin sogar die antitumorale
Wirkung, sagte Bokemeyer. Dies wird in einer Studie an 25 Patienten mit
nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom getestet.
Gearbeitet wird noch an der optimalen Dosierung des Zytoprotektivums. Derzeit
wird eine 15minütige Infusion von 740 bis 910 mg/m2 vor der Chemotherapie
empfohlen. Da es Brechreiz und Übelkeit auslöst, muß man vor der Infusion
Antiemetika geben (Steroide plus 5-HT
3-Antagonisten). Um der Gefahr der
Hypotonie zu begegnen, riet Bokemeyer, die Lösung dem liegenden Patienten zu
infundieren.
Amifostin schützt Speicheldrüsen
Sehr hilfreich könnte das Arzneimittel für Patienten mit HNO-Tumoren werden, die
bestrahlt werden müssen, erläuterte Professor Dr. Michael Wannenmacher, Direktor
der Radiologischen Klinik in Heidelberg. Aufgrund ihrer anatomischen Lage läßt es
sich kaum vermeiden, daß die Speicheldrüsen erfaßt werden. Eine schwere Folge ist
die Xerostomie, die Mundtrockenheit.
Normalerweise geben die Speicheldrüsen bis zu 1,5 Liter Flüssigkeit pro Tag ab.
Die Strahlen können sie soweit schädigen, daß die Speichelproduktion dramatisch
sinkt oder aufhört und die Drüsen nicht mehr stimuliert werden können. Die
Patienten leiden an extremer Austrocknung der Schleimhäute, bekommen häufiger
Mundsoor, haben Schwierigkeiten beim Sprechen und Essen und benötigen ständig
Supportivpräparate.
In einer Studie an 315 Krebspatienten konnte Amifostin die Inzidenz der akuten
Xerostomie von 78 Prozent (nur Bestrahlung) auf 50 Prozent (Bestrahlung plus
Amifostin) senken. Nach zwölf Monaten litten in der Kombigruppe noch 34 Prozent
der Patienten an Xerostomie gegenüber 60 Prozent aus der Gruppe, die nur
bestrahlt wurden. Die Antitumor-Wirkung wurde nicht beeinflußt. Die Firma
erwartet die FDA-Zulassung für die Indikation "Verhinderung der Xerostomie nach
Strahlentherapie" Anfang des nächsten Jahres.
PZ-Artikel von Brigitte M. Gensthaler, München
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