Pharmazie
Immer mehr Funktionen, für die bisher andere chemische Prozesse oder
Organe als zuständig galten, werden nun Hormonen zugeschrieben. Daß
unterschiedlichste Erkrankungen wie Harninkontinenz, dermatologische
Probleme oder Aneurysmen letztlich die Folge des gleichen biochemischen
Prozesses sind, erklärte Professor Dr. Johannes Huber, Leiter der
Gynäkologischen Endokrinologie der Universitätsklinik Wien, auf einer von
Dr. Kade/Besiens initiierten Fortbildungsveranstaltung.
Nach Hubers Ausführungen haben Harninkontinenz oder Absenkungen im
Urogenitaltrakt nur bedingt mechanische Ursachen. In erster Linie spielen
biochemische Prozesse eine Rolle, wobei Metallo-Matrixproteasen (MMP) die
Hauptakteure sind (siehe auch PZ 39, Seite 34). In Multizenterstudien haben
Wissenschaftler bei harninkontinenten Frauen siebenfach erhöhte MMP2-Werte und
vierfach gesteigerte MMP9-Werte gefunden.
MMP sind kleine biochemische Scheren, die immer dann ausschwirren, wenn der
Progesteronspiegel absinkt. Sie bleiben an kleinen Gewebsläsionen hängen und
zerschneiden das Gewebe. So zum Beispiel nach der Geburt. Innerhalb von vierzehn
Tagen durchtrennen die MMP die Uteruswand. Fatalerweise verankern sie sich
nicht nur im Endometrium, einige verirren sich auch im Beckenboden. Der
Grundstock für eine spätere Inkontinenz ist gelegt. Wenn im Klimakterium der
Progesteronspiegel sinkt, nimmt die Inkontinenz möglicherweise ihren Lauf. Der
Progesteronmangel wirkt sich doppelt negativ aus: In physiologischen
Konzentrationen hemmt das Hormon die Kollagenasen und stimuliert gleichzeitig
Inhibitoren der MMP.
"Ein vollkommen anderer Prozeß, die physiologische Hautalterung, beruht auf dem
gleichen biochemischen Mechanismus", erklärte Huber. Den MMP hat man die
Faltenbildung zu verdanken. Zwei der Hauptinduktoren der MMP neben dem
Progesteronmangel sind UV-Licht und Nikotin. Beide führen zu einer
Up-Regulierung der biochemischen Schneidewerkzeuge. Diese schwirren aus und
zerstören in den tiefer gelegenen Hautschichten Kollagen. Huber weiß Rat:
"Topisches Progesteron wirkt der Faltenbildung entgegen." Er empfiehlt, 3 Prozent
Progesteron in Jojobaöl zu lösen. Damit verhindere man die Auskristallisation des
Hormons.
Die Proteasen stecken auch hinter Aneurysmen, informierte der Referent. Heute
stelle man sich ein Aneurysma nicht mehr als Gartenschlauch vor, der an einer Stelle
durch Überdruck ausgebuchtet ist. Vielmehr sorgen wiederum Progesteronmangel,
Nikotin oder atherosklerotische Plaques für eine Up-Regulierung der MMP. Diese
beginnen an einer Stelle im arteriellen Schenkel die Gefäßwand zu zerschneiden und
verursachen dann die Beschwerden.
Hormone bremsen Metastasen
Kürzlich im Wissenschaftsblatt Lancet veröffentlichte Zahlen deckten eine
Abhängigkeit zwischen Krebserkrankungsrisiko und Dauer der Hormonsubstitution
auf. Das sei aber nur die halbe Wahrheit, so Huber. Gepoolte Daten aus einer
Gegenüberstellung von Hormonersatztherapie versus nichtsubstituierte Patientinnen
bringen ein zweites Ergebnis ans Licht: Unter einer Hormongabe sinkt die Inzidenz
der Metastasierung um 46 Prozent, der Lymphknotenbefall nimmt um 18 Prozent
ab. Huber: "Hormone beeinflussen die Zellqualifikation. Die Tatsache, daß man nicht
am Primärtumor stirbt, sondern an den Metastasen, spricht für die
Hormonersatztherapie."
Der Progesteron-Abfall im Klimakterium ist Grund für den rapide steigenden
Psychopharmakagebrauch bei Frauen ab 50 Jahren. Progesteron schützt nicht nur
die Gebärmutterschleimhaut, sondern beeinflußt auch das seelische Gleichgewicht
der Frau. Das Gelbkörperhormon umspielt den GABA-Rezeptor, an den
beispielsweise auch Diazepam andockt. Progesteron wirkt somit im weiblichen
Organismus als endogenes Barbiturat, erklärte Huber. "Progesteron-substituierte
Frauen sollten keine beruhigend wirkenden Phytopharmaka wie Baldrian
einnehmen", empfahl der Referent. Extreme Erschöpfungszustände seien die
unangenehme Folge. Fehlt das Hormon, kommt es mitunter zu schweren
psychosomatischen Störungen. Umgekehrt kann eine Progesteron-Substitution den
Grad depressiver Verstimmungen und echter Depressionen modulieren.
Die Wirkung ist nicht auf Progesteron direkt zurückzuführen, sondern auf
Allopregnenolon, das durch Reduktion aus Progesteron entsteht. Es wirkt wie ein
selektiver Serotonin-Reuptake-Hemmer, und "das macht es derzeit für die
Neurologen so interessant". Bei einem Defizit muß es nicht gleich eine
Hormonsubstitution sein, informierte Huber. Phytopharmaka, wie Extrakte der
Palmenwurzel, stimulierten die Umwandlung des Progesterons zu seinem
wirksameren Metaboliten.
Hormone zum Schmieren und Tropfen: "Go topical"
Ein Fall von Estrogenmangel ist die Arthropathia klimacterica. "Der Rheumatologe
wird bei Frauen, die unter morgendlichen Gelenkschmerzen in den Wechseljahren
leiden, keine Rheumafaktoren und sonstigen immunologischen Parameter feststellen
können", prophezeite Huber. Abhilfe schaffe ein Estradiol-haltiges Gel (Gynokadin
Gel), das auf die Gelenke dünn aufgetragen wird. Der Wirkstoff diffundiere bis zur
Gelenkkapsel und supprimiere dort die schmerzauslösenden Faktoren. Bis vor
kurzem noch als Magistralrezeptur hergestellt, ist das Estrogel seit ein paar Monaten
auf dem deutschen Markt verfügbar.
Estrogene sind auch in der Ophthalmologie ein Thema. Die topische
Estrogen-Applikation ist beim Sicca-Syndrom angezeigt. Das Trockene Auge
bekommen Frauen in der Menopause zu spüren. Hormone hemmen einerseits die
Tränenproduktion und mischen sich andererseits in die Zusammensetzung der
Tränenflüssigkeit ein.
Eine Estradiol-haltige Augensalbe bringe Linderung, riet Huber. Der neue Trend in
der Hormontherapie laut Huber: "Go topical". Das gelte auch für Akne-Patientinnen:
"Warum Cyproteronacetat einnehmen, wenn man es auch äußerlich auftragen kann?"
Neuere Studien outen auch das Glaukom als Estrogen-abhängige Erkrankung.
Zumindest vermag eine 17ß-Estradiol-haltige Salbe den Augeninnendruck vehement
zu senken. Unter Estrogeneinfluß entspannt sich der Schlemmsche Kanal.
Der Gynäkologe als Bodystyler
"Das Gewicht steht unter dem Taktstock der Eierstockhormone", sagte Huber. Die
therapeutischen Maßnahmen richteten sich danach, wo die Gewichtsprobleme
auftreten. Klagt die Patientin hauptsächlich über Pfunde an Po und Hüfte, ist die
Estradiol- und Progesterondosis zu reduzieren, egal ob es sich um orale
Kontrazeptiva oder um eine Hormonersatztherapie handelt, so Hubers Rat. Unter
einem Zuviel an weiblichen Hormonen explodieren die Adipozyten an Po und Hüfte;
die Patientin wird trotz Sport und Diät nicht abnehmen. Die Evolution hat diese
Zellen als Spender für Adenosintriphosphat während der Laktation vorgesehen.
Kämpft die Patientin gegen ihre Pfunde in der Bauchgegend, ist eine
Hypoandrogenemie die Ursache. Diesen Frauen mache deshalb meist auch eine
nachlassende Libido zu schaffen, stellte Huber die Zusammenhänge her. Adipozyten
aus dem abdominellen Bereich werden durch Androgene mobilisiert. Diese müssen
jedoch die Eigenschaft haben, nicht aromatisiert zu werden. Durch die
Aromatisierung entstünden Estrogene. Huber empfiehlt: Einmal täglich eine
Androstenolon-haltige Salbe auf den Bauch einzumassieren, zusätzlich eine
Carnitin-haltige Trinkampulle einnehmen plus 20 Minuten Bewegung auf dem
Ergometer. Übrigens: Auch die Cellulitis sei eine Erkrankung des endokrinen
Systems.
PZ-Artikel von Elke Wolf, Oberursel
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