Pharmazie
Im kardiovaskulären System sind nach dem bisherigen Kenntnisstand die
Calciumkanäle vom L- und T-Typ von Bedeutung, die sich durch die Dauer
ihrer Öffnung und das zur Aktivierung notwendige Schwellenpotential
unterscheiden: L steht für long lasting, langanhaltend und T für transient,
transitorisch. Die bisher in der Herz-Kreislauf-Therapie eingesetzten
klassischen Calciumantagonisten, die Dihydropyridine wie Nifedipin (wie
Adalat®), Nitrendipin (wie Bayotensin®) oder Isradipin (wie Lomir®),
wirken über die Blockade der L-Typ Calciumkanäle. Nachteil der
L-Kanal-blockierenden Substanzen ist die negative Inotropie, die besonders
bei schnellfreisetzenden Nifedipin-Derivaten zu Reflextachykardien führt.
Der Calciumantagonist Mibefradil (Posicor®, Cerate®), ein Tetralinderivat, wurde
zur Behandlung der Hypertonie und der stabilen Angina pectoris zugelassen. Als
Innovation wird vom Hersteller die Selektivität der Substanz zu den
T-Calciumkanälen hervorgehoben. Molecular-Modelling-Untersuchungen
relativieren die T-Calciumkanal-Selektivität. Ein Strukturvergleich mit Verapamil
ergab vergleichbare Wechselwirkungsfelder, so daß nicht auszuschließen ist, daß
diesen analoge Wirkmechanismen und Bindungsstellen zugrundeliegen. Es wurde
geschlußfolgert, daß Mibefradil demnach grundsätzlich auch L-Kanäle und
Verapamil T-Kanäle direkt hemmen kann, wobei Unterschiede lediglich in der
Quantität bestehen.
Zahlreiche klinische Studien belegen ein günstiges Wirkungsprofil; im Unterschied zu
anderen Calciumantagonisten wirkt Mibefradil nicht negativ inotrop, was
insbesondere zur Behandlung von Patienten mit einer verringerten Funktionsfähigkeit
des Herzmuskels von Vorteil wäre. Inwieweit sich diese potentiell günstigen
Wirkungen auch außerhalb kontrollierter klinischer Prüfungen bestätigen, wird die
ambulante Praxis zeigen. Obwohl die klinischen Studien bisher eine gute
Verträglichkeit belegten, wurden in letzter Zeit einige Warnhinweise publiziert: So
trat bei einer 76jährigen Frau nach einwöchiger Einnahme von Mibefradil ein
kardiogener Schock auf. Zudem erschweren ausgeprägte Wechselwirkungen die
Anwendung des neuen Calciumantagonisten und machen in jedem Fall eine
engmaschige Überwachung der Therapie erforderlich.
Als Reaktion auf die dokumentierten problematischen Arzneimittelinteraktionen mit
Mibefradil verzichtete Hoffmann-La Roche weltweit auf die Zulassung, und Asta
Medica AWD stellte vorläufig den Vertrieb des Präparates Cerate ein. Die
Entscheidung fiel nach der Auswertung einer 3-Jahres-Studie zur Wirkung von
Mibefradil bei chronischer Herzinsuffizienz. In Anbetracht des Risikos von
ernsthaften Wechselwirkungen zeigte sich kein signifikanter Unterschied bezüglich
des therapeutischen Effektes im Vergleich zu Placebo, wenn Mibefradil zusätzlich
zur Standardbehandlung gegeben wurde. Die derzeit auf dem Markt befindliche
Ware von Cerate bleibt aber verkehrsfähig und kann abgegeben werden. Die Firma
Hoffmann-La Roche publizierte jüngst einen sogenannten Dear-Doctor-Letter, um
den Ärzten bei der Umstellung auf andere Präparat:e Empfehlungen an die Hand zu
geben.
Folgendes ist zu beachten, sobald Calciumantagonisten oder ß-Blocker als
Alternative zu Mibefradil verordnet werden sollen:
- Amlodipin oder Atenolol dürfen erst 2 bis 3 Tage nach Absetzen von
Mibefradil eingesetzt werden.
- Calciumantagonisten (außer Felodipin) oder andere ß-Blocker (außer
Timolol) dürfen erst 14 Tage nach Absetzen von Mibefradil eingesetzt
werden.
- Keine speziellen Vorsichtsmaßnahmen sind bei der Umstellung auf andere
Antihypertensiva oder antianginöse Medikamente, wie ACE-Hemmer,
Angiotensin-II-Antagonisten, Diuretika oder Nitrate, zu beachten.
Jeder Arzneistoff, der über die Cytochrom P450-Isoenzyme 3A4 oder 2D6
verstoffwechselt wird, kann mit Mibefradil interagieren; die gleichzeitige Gabe kann
daher zu erhöhten Plasmaspiegeln dieser Arzneistoffe führen, so daß eine
Dosisanpassung nach Absetzen von Mibefradil erforderlich wird. Das klinische
Erscheinungsbild dieser Interaktionen ist abhängig vom Nebenwirkungsprofil der
Arzneistoffe. Die Mibefradil-induzierte Enzymhemmung kann sowohl das Auftreten
von unerwünschten Effekten der Substanzen verstärken, die durch diese Isoenzyme
abgebaut werden, als auch die Bildung derer aktiver Metabolite verhindern. Im
Mittel dauert es 7 bis 14 Tage bis Mibefradil und seine Metabolite aus dem Körper
eliminiert und die Enzymhemmung aufgehoben ist. Diese pharmakokinetische
Besonderheit von Mibefradil sollte ebenso wie der Gesundheitszustand des
Patienten bei der Verordnung von Arzneistoffen, die über das CYP
450-Enzymsystem verstoffwechselt werden, berücksichtigt werden. Dies betrifft
unter anderem die Arzneistoffe: Amiodaron, Astemizol, Bepridil, Chinidin, Cisaprid,
Ciclosporin, Cyclophosphamid, Desipramin, Erythromycin, Etoposid, Flecainid,
Flutamid, Halofantrin, Ifosfamid, Imipramin, Lovastatin, Mexiletin, Pimozid,
Propafenon, Simvastatin, Tacrolimus, Tamoxifen, Terfenadin, Thioridazin,
Vinblastin, Vincristin.
PZ-Artikel von Barbara Peruche und Martin Schulz, Eschborn
© 1997 GOVI-Verlag
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