Pharmazie
Der in Deutschland noch nicht zugelassene Wirkstoff Copolymer-1 oder
Glatirameracetat senkt die Schubrate bei Multipler Sklerose ähnlich wie die
Beta-Interferone um etwa ein Drittel. Er könnte Vorteile bringen für wenig
behinderte Patienten, die auf Interferone nicht ansprechen oder durch deren
mögliche Nebenwirkungen stark belastet werden. Jedoch dauert es
mindestens drei Monate, bis ein Effekt einsetzt.
Bislang nannte man es einfach Copolymer-1: das Acetatsalz eines Gemischs aus
Polypeptiden, das aus den vier L-Aminosäuren Glutaminsäure (14 Prozent), Lysin
(34 Prozent), Alanin (43 Prozent) und Thyrosin (9 Prozent) synthetisiert wird. Die
Initialen der Einzelkomponenten bilden den Anfang des exakten Namens
Glatirameracetat. Das Molekulargewicht der Molekülketten liegt zwischen 4700 und
11000 Dalton. Die Aminosäuren werden in demselben Verhältnis gemischt, wie sie
im Myelin-basischen Protein (MBP) der Myelinscheide vorliegen. MBP gilt als eines
der Autoantigene bei der Entstehung der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose.
Kompetitive Konkurrenz an MHC-II-Molekülen
Glatirameracetet soll mild immunmodulatorisch wirken. Dr. Ariel Miller vom Carmel
Medical Center in Haifa, Israel, erklärte bei einer Pressekonferenz der Firmen Teva
und Hoechst Marion Roussell in Rottach-Egern, wie man sich den
Wirkmechanismus vorstellt.
Nach subkutaner Injektion bindet der Arzneistoff schnell und mit hoher Affinität an
MHC-II-Moleküle auf Antigen-präsentierenden Zellen. Dabei verdrängt er Antigene
wie MBP oder andere Enzephalitogene wie Proteolipid-Protein (PLP) und
Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) von der Bindungsstelle und
verhindert so die antigenspezifische Aktivierung von T-Zellen. Dadurch wird die
Bildung von pro-inflammatorischen Zytokinen wie IL-2 und IFN-y gestoppt. Noch
wichtiger ist die Induktion von Glatirameracetat-spezifischen T-Suppressorzellen
vom TH
2-Typ, erläuterte Miller. Dies erfolge vermutlich an der Injektionsstelle.
Der Clou dabei: Die in der Peripherie induzierten TH
2-Zellen können durch die
Blut-Hirn-Schranke wandern und werden im ZNS, also am Ort der unerwünschten
Autoimmunreaktion, von MBP aktiviert. Dann produzieren diese T-Zellen
anti-inflammatorische Zytokine wie IL-4, IL-6, IL-10 sowie TGF-ß. Auf dem Wege
der "bystander suppression" wird auch die Immunreaktion auf andere
Myelinantigene unterdrückt.
Therapie frühzeitig beginnen
Die Therapie bei der schubförmigen MS zielt vor allem darauf ab, die Schubrate zu
reduzieren und das Fortschreiten der Behinderung aufzuhalten. Bei circa 85 Prozent
der Patienten beginnt die MS mit Schüben und Phasen der Besserung.
Nach einer placebokontrollierten Studie mit 251 Patienten, die Professor Dr.
Kenneth P. Johnson vom Department of Neurology in Baltimore (USA) resümierte,
reduzierte das Verum (20 mg subkutan täglich) die Schubrate um etwa dreißig
Prozent nach 24 und 30 Monaten. Das entspricht dem Effekt der Beta-Interferone.
Etwa 150 Patienten setzen die Therapie inzwischen seit sechs Jahren fort.
In Deutschland läuft seit drei Jahren eine offene Studie mit 545 Patienten (69
Prozent Frauen, mittleres Alter 35,7 Jahre, mittlerer EDSS 2,9). Die mittlere
jährliche Schubrate betrug in den beiden Jahren vor Therapie 1,6 und unter
Glatirameracetat 0,78, berichtete Dr. Dieter Pöhlau von der Sauerlandklinik Hachen
in Sundern. Man müsse aber berücksichtigen, daß die bessere Betreuung während
der Studie per se die Schubrate reduziere und diese außerdem über die Zeit hinweg
abnehme ("regression to the mean"). Nach mindestens zwölfmonatiger Behandlung
hatten sich 17 Prozent um mindestens einen EDSS-Punkt gebessert, 75 Prozent
blieben unverändert.
Am meisten profitieren Patienten, die wenig behindert sind (bis 2,0 EDSS-Punkte).
Daraus leitete der Arzt eine klare Forderung ab: Alle Patienten mit schubförmiger
aktiver MS sollten frühzeitig immunmodulatorisch behandelt werden, solange sie
noch "in gutem Zustand" sind. Ab einem Schweregrad von 7,5 würde er diese
Therapie nicht mehr einsetzen. Noch problematischer sei es, das Therapieende zu
definieren.
Keine Wirkung ohne Nebenwirkung
Lokale Reaktionen an der Einstichstelle sind häufig (bei 0,4 Prozent aller
Injektionen) und werden auf eine Histaminfreisetzung zurückgeführt. Hautnekrosen
traten nicht auf.
Deutlich belastender ist die "sofortige Postinjektionsreaktion", die sich in Luftnot,
Herzjagen, Engegefühl in der Brust und Gesichtsrötung äußert. Viele Patienten
bekommen Angst, obwohl die Symptome nach 20 bis 30 Minuten ohne Folgen
abklingen. In der deutschen Studie erlitten laut Pöhlau 23 Prozent der Patienten
mindestens einmal diese Reaktion. Die statistische Häufigkeit wird mit 0,04 Prozent
angegeben (eine Reaktion pro 2500 Injektionen). Im Langzeit-EKG wurde bei 120
Patienten keine Veränderung beobachtet.
Wann Beta-Inferone, wann Glatirameracetat?
Noch gibt es keine gesicherte Differentialindikation zwischen den beiden
Wirkprinzipien, erklärten die Referenten. Bei hoher Schubrate und hoher Aktivität
im Kernspintomogramm würden sie Beta-Interferone einsetzen. Wenn diese
versagen oder neutralisierende Antikörper gegen IFN in großen Mengen gebildet
werden, würde Pöhlau auf den neuen Wirkstoff umsteigen. Geeignet sei dieser
ebenfalls für wenig behinderte Patienten oder Menschen, die empfindlich auf
Temperaturerhöhung oder grippeähnliche Symptome reagieren.
Glatirameracetat ist für die Behandlung der schubförmigen MS unter anderem
zugelassen in Israel, den USA und Kanada. Deutsche Apotheken können es auf
Einzelverordnung eines Arztes (§ 73, Abs. 3 AMG) aus Israel beziehen. In Europa
laufen nach Aussagen von Teva Zulassungsanträge in Frankreich und
Großbritannien. Im Wege der gegenseitigen Anerkennung soll es dann in
Deutschland zugelassen werden.
PZ-Artikel von Brigitte M. Gensthaler, München
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