Pharmazie
Eine einschneidende Veränderung der Impfstrategie zum Schutz gegen
Kinderlähmung steht in Kürze bevor. Die seit 1961 eingesetzte orale
Poliovaccine (OPV) hat sich in Form der Schluckimpfung gegen das
Polio-Wildvirus hervorragend bewährt: Seit 1986 ist in Deutschland kein
Fall einer Polio-Wildvirus-Erkrankung mehr aufgetreten. Dennoch muß
diese bislang so erfolgreiche Impfstrategie überdacht werden.
In der STIKO (Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut) wird schon seit
Jahren die Umstellung auf einen zu injizierenden, inaktivierten Polio-Impfstoff
diskutiert. In den USA, in Kanada und einigen westeuropäischen Ländern ist diese
Umstellung schon vollzogen worden. Der Grund dafür liegt in der Risikobelastung
der Schluckimpfung durch die sogenannte Impfpoliomyelitis, von der seit 1986 in
Deutschland 17 schwere Fälle registriert wurden.
Das Entstehen dieser vaccine-assoziierten Erkrankung wird folgendermaßen erklärt:
Die Schluckimpfung ahmt den natürlichen Infektionsweg der Polioerkrankung nach.
Die im Impfstoff enthaltenen abgeschwächten, nicht mehr neuropathogenen
Polioerreger vermehren sich im Darm des Impflings und werden über eine Zeit von
etwa 4 bis 8 Wochen mit dem Stuhl ausgeschieden. In dieser langen Vermehrungs-
und Ausscheidungsphase kann es zu Mutationen der Impfviren mit mehr oder
weniger ausgepräqter Neurovirulenz kommen. Sie werden dann ebenfalls mit dem
Stuhl ausgeschieden und gefährden Kontaktpersonen des Impflings. Typisches
Beispiel für das Auftreten einer Impfpoliomyelitis ist die Erkrankung einer
Pflegeperson, die dem frisch oralimmunisierten Säugling die Windeln wechselt, selbst
an der Schluckimpfung aber nicht teilgenommen hat.
Angesichts dieser Problematik hat die STIKO folgende Empfehlung zum
Poliomyelitis-Schutz erarbeitet (Stand: März 1997): Der die Polio-Schluckimpfung
verabreichende Arzt hat den Impfling oder seine Eltern beziehungsweise
Sorgeberechtigten auf die Möglichkeit einer Ansteckungsgefahr für Dritte
hinzuweisen und über die zur Vermeidung einer Ansteckung gebotenen
Schutzmaßnahmen zu informieren. Sofern die Eltern oder Pflegepersonen in den
letzten 10 Jahren nicht gegen Polio geimpft wurden, ist ihnen die gleichzeitige,
einmalige Gabe von oralem Polio-Impfstoff zu empfehlen.
Für alle Personen mit Immundefekten ist zum Polioschutz die Schluckimpfung nicht
mehr indiziert. Es steht für diesen Personenkreis mit IPV (inaktivierte
Poliomyelitisvaccine) ein subcutan zu applizierender monovalenter Impfstoff zur
Verfügung. Darüber hinaus wird zur Eindämmung des mit der Impfung verbundenen
Risikos empfohlen, die routinemäßige Auffrischimpfung mit oraler Poliovaccine
letztmalig im 15. Lebensjahr durchzuführen, ausgenommen sind die obengenannten
Kontaktpersonen.
Die STIKO zögert, eine generelle Abkehr von der oralen Poliovaccine zugunsten
eines injizierbaren Impfstoffs zu empfehlen, weil eine schlechtere Akzeptanz der
Impfung befürchtet wird. Schon jetzt ist die Belastung der Impflinge durch nicht
weniger als 12 Impfinjektionen erheblich, wenn den Impfempfehlungen der STIKO
bis zum 15. Lebensjahr gefolgt wird. Der derzeit erreichte Durchimpfungsgrad von
mehr als 80 Prozent muß jedoch erhalten bleiben, um das Auftreten neuer
Polio-Endemien sicher zu verhindern. Dies würde jedoch, so befürchten Experten,
mit hoher Wahrscheinlichkeit problematisch, wenn eine weitere im Säuglingsalter zu
injizierende Impfung hinzukäme.
Der Entwicklung eines Kombinationsimpfstoffes (etwa DTPa-Hib-IPV) kommt
insofern eine wesentliche Bedeutung zu. Die Markteinführung entsprechender
Impfstoffe ist in absehbarer Zeit vorgesehen. Erst dann ist zu erwarten, daß die
STIKO ihre Empfehlungen auf die ausschließliche Verwendung injizierbarer
Impfstoffe zum Polio-Schutz umstellt. Bis dahin darf durch die Diskussion um die
Polioimpfung keine Verunsicherung des Verbrauchers und damit eine verschlechterte
Akzeptanz der Schluckimpfung eintreten, da sonst gefährliche Impflücken entstehen
können.
Halmut Renz, Bremen
PZ. Bereits auf ihrer nächsten Sitzung im November wird die STIKO den Ersatz der
Polio-Schluckimpfung durch einen zu injizierenden, inaktvierten Impfstoff
beschließen. Das meldet die "Woche" in einer Pressenotiz vom 6. August. Weiter
heißt es, die Zulassung von zwei neuen Kombinationsimpfstoffen in Deutschland
"steht in Kürze bevor". Sie enthalten neben Standardvaccinen, etwa gegen
Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten oder Hepatitis, abgetötete Polioviren; bei der
Schluckimpfung wurden abgeschwächte Erreger verabreicht.
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