Pharmazie
Viele Fortschritte, viel Hoffnung und viele offene Fragen - so könnte man
die Grundstimmung bei den 6. Münchner Aids-Tagen Anfang Juli
beschreiben. Trotz bedeutender Erfolge gibt es keine Entwarnung. Die
Immunschwächekrankheit ist nach wie vor nicht heilbar, und jährlich
infizieren sich etwa 2000 Menschen in Deutschland mit dem Virus. Die
Erwartungen, die die neuen Arzneistoffe geweckt haben, gelten ohnehin nur
für Industrieländer, die sich die Therapie leisten können. Nach Angaben des
aktuellen Unicef-Jahresberichts sterben täglich rund 1000 Kinder in der
Dritten Welt an Aids.
Trotz nach wie vor fehlender Heilungschancen sprach der Münchner Aids-Spezialist
Dr. Hans Jäger von "teilweise erdrutschartigen Fortschritten in der Behandelbarkeit
der HIV-Erkrankung". Ausgelöst wurde die Entwicklung durch ein besseres
pathologisches Verständnis, den Routineeinsatz der Viruslast zur
Therapieüberwachung und neue Arzneistoffe wie Lamivudin (3TC) und die
Protease-Inhibitoren.
Konvergente oder divergente Therapie
Die Therapie der HIV-Erkrankung begann 1986 mit Zidovudin (AZT), einem
Hemmtoff des viralen Enzyms Reverse Transkriptase. Nach Jahren der
Monotherapie bewiesen 1995/96 die ACTG-175- und die Delta-Studie die
klinische Überlegenheit einer Kombination aus zwei Nukleosidanaloga. Die
Einführung der Protease-Inhibitoren Saquinavir, Indinavir und Ritonavir im letzten
Jahr brachte deutliche Fortschritte. In klinischen Endpunktstudien waren sie in der
Lage, die Krankheitsprogression um etwa 50 Prozent zu reduzieren.
Bei der konvergenten Strategie werden Arzneistoffe eingesetzt, die am gleichen
Wirkort, zum Beispiel der Reversen Transkriptase oder der Protease, ansetzen. Bei
der divergenten Strategie kombiniert man Stoffe mit unterschiedlichem Angriffsort.
Vorrangiges Ziel ist die komplette Unterdrückung der Virusreplikation über einen
längeren Zeitraum, das bedeutet, die Senkung der Viruslast unter die
Nachweisgrenze von derzeit 100 bis 200 Virus-RNA-Kopien pro ml Blut. Nur
solange sich das Virus vermehrt, können Mutationen entstehen, die zu Resistenzen
führen. Mit Abnahme der Virämie steigt meist die T-Helfer-(CD4)-Zellzahl an.
Im Frühjahr 1997 wurden die Studien ACTG-320 und 028 abgebrochen, da die
Kombination mit Indinavir klinisch deutlich überlegen war, erläuterte Dr. Schlomo
Staszewski von der Universitätsklinik in Frankfurt bei einer Pressekonferenz der
Firma MSD Sharp & Dohme. Er bezeichnete die Gabe von AZT mit Lamivudin und
Indinavir als derzeit aktivste Kombination bei naiven oder leicht vorbehandelten
Patienten.
Die Patientencompliance spielte noch vor wenigen Jahren kaum eine Rolle, galt es
doch, das Überleben zu verlängern. Dieser Aspekt wird nun immer wichtiger, da
neue Arzneistoffe ein Langzeitüberleben ermöglichen . Nur eine strenge Befolgung
der Therapieschemata stellt sicher, daß die guten Effekte der Studien auch in der
Praxis erzielt werden. Nach Erfahrungen von Dr. Jörg Gölz, der eine
Schwerpunktpraxis in Berlin leitet, nimmt nur etwa die Hälfte der Patienten eine
Dreifachtherapie langfristig zuverlässig ein. Doch mangelhafte Compliance fördert
Resistenzen, denn selbst kurzfristige "drug holidays" steigern die Viruslast signifikant.
Zunehmende Probleme bereitet außerdem der Konsum von Drogen wie Ecstasy und
Cannabis. Protease-Inhibitoren können die Drogenwirkung verlängern oder
Intoxikationen auslösen. Gölz forderte daher verträglichere Therapien, die auf
größere Patientenakzeptanz stoßen. In Frankfurt werde derzeit für Drogenabhängige
die einmal tägliche Gabe der antiretroviralen Wirkstoffe erprobt, berichtete
Staszewski.
Noch mehr Arzneistoffe in den USA
Neben den acht in Deutschland zugelassenen antiretroviralen Medikamenten gibt es
in den USA drei weitere: die nicht-nukleosidischen
Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) Nevirapin und Delaviridine sowie den
Protease-Inhibitor Nelfinavir. Mit der FDA-Zulassung für Nevirapin ist seit letztem
Jahr ein neues Therapieprinzip verfügbar. Der Arzneistoff bindet nicht-kompetitiv
und reversibel an das katalyische Zentrum der Reversen Transkriptase von HIV-1.
Die Wirkung setzt rasch ein, allerdings bilden sich unter Monotherapie ebenso rasch
Resistenzen. Aussichtsreicher scheint die Kombination mit Nukleosidanaloga plus
Proteasehemmern. In der INCAS-Studie wurde die Viruslast durch die
Kombination von AZT plus Didanosin plus Nevirapin langfristig unter die
Nachweisgrenze gedrückt.
Im April dieses Jahres ließ die amerikanische FDA (Food and Drug Administration)
mit Delaviridine den zweiten Vertreter der NNRTI zu. In Kombination mit AZT und
Zalcitabin oder Didanosin kam es zum langfristigen Anstieg der T-Helferzellen und
zum Abfall der Plasmavirämie. Delaviridine verdoppelte die Plasmakonzentration
von Indinavir; die Wirkstoffspiegel von Saquinavir stiegen um den Faktor fünf.
Die dritte Substanz, Nelfinavir, ist ein potenter Protease-Inhibitor mit relativ guter
Verträglichkeit. Die Dreifachkombination mit AZT plus Lamivudin ergab eine
signifikant stärkere Senkung der Viruslast als die Zweifachkombination, Die Gabe
von dreimal täglich 750 mg war bei Patienten mit hoher Viruslast im Vergleich zu
dreimal täglich 500 mg effektiver; bei geringer Virusbeladung zu Therapiebeginn
zeigte sich kein Unterschied. In vitro hemmt Nelfinavir das Cytochrom
P450-Isoenzym CYP3A zehnmal weniger als Indinavir; dies könnte das Risiko für
Wechselwirkungen senken. Klinisch bedeutende Interaktionen sind aber dennoch
vorhanden: Die Blutspiegel von Terfenadin und Rifabutin wurden erhöht, die von
Ethinylestradiol gesenkt. Rifampicin senkte die Nelfinavir-Spiegel um 82 Prozent.
Antivirale Hemmstoffe in der Prüfung
Als neuer Hemmstoff der Reversen Transkriptase ist derzeit 1592U89 (Abacavir) in
klinischer Prüfung. Seine Bioverfügbarkeit erreicht 70 Prozent; die ZNS-Gängigkeit
ist mit etwa 20 Prozent vergleichbar mit AZT. Intrazellulär wird der Arzneistoff in ein
Nukleosidanalogon von Guanosid metabolisiert; das Triphosphat hat eine
Halbwertszeit von 3,3 Stunden. In vitro fand man keine oder nur geringe
Kreuzresistenzen zu AZT, Didanosin, Zalcitabin und Lamivudin. In einer klinischen
Studie mit 47 Patienten konnte die Viruslast durch eine vierwöchige Monotherapie
dosisabhängig (dreimal 200 bis 400 mg) deutlich gesenkt werden.
141W94, früher VX-478 genannt, ist ein Protease-Inhibitor, der in vitro
synergistisch wirkt mit AZT, Didanosin, Saquinavir und 1592U89. Auffällig ist die
erhöhte Empfindlichkeit von 141W94-resistenten HIV-Isolaten gegenüber
Saquinavir und Indinavir; zu Ritonavir besteht Kreuzresistenz. Bei einer
Halbwertszeit von sieben bis zehn Stunden reicht die zweimal tägliche Gabe.
Phase-I-Studien zeigten eine gute antivirale Wirksamkeit bei Dosen von zweimal
900 mg oder 1200 mg; die höhere Dosis hatte in einer Studie mit 42 Patienten den
besten Effekt. Bei über 95 Prozent der Patienten traten allerdings unerwünschte
Nebenwirkungen wie Diarrhoe, Hautausschlag und Kopfschmerzen auf.
ABT-378, ein neuer Proteasehemmer, tritt jetzt in Phase-II-Studien ein. Die
Substanz zeigt eine mit Ritonavir vergleichbare In-vitro-Wirksamkeit. Im
Rattenexperiment interagieren ABT378 und Ritonavir: Ritonavir erhöht die
ABT-378-Spiegel um den Faktor 13.
PZ-Artikel von Brigitte M. Gensthaler, München
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