Pharmazie
Ermöglicht
demnächst eine neue Gruppe von Therapeutika die Heilung
von schweren chronischen Entzündungen, Virusinfektionen
und Krebs? Die Ergebnisse klinischer Untersuchungen mit
Antisense-Molekülen stimmen die Wissenschaftler
optimistisch. Bei der Behandlung der
Cytomegalovirus-Infektion des Auges von Aids-Patienten
und bei Morbus Crohn, einer chronischen Erkrankung des
Darms, sind erste Studienergebnisse erfolgversprechend.
Die Pharmaunternehmen hoffen, die ersten
Antisense-Verbindungen Anfang 1998 bei der Food and Drug
Administration zur Zulassung anmelden zu können.
Antisense-Therapeutika sind kurze synthetische Abschnitte
von DNA- oder RNA-Molekülen. Sie können in der Zelle
gezielt die Bildung bestimmter Genprodukte verhindern,
indem sie an deren Boten-RNA (m-RNA) binden. Die m-RNA
selbst ist das Produkt des Umschreibeprozesses der
Information, die in den Genen des Erbmaterials
gespeichert ist. Die Botenmoleküle transportieren die
genetische Information zu den Eiweißfabriken der Zellen,
den Ribosomen, wo die Bauanleitung in ein Eiweißmolekül
umgesetzt wird. Während die m-RNA-Moleküle
Informationen enthalten, die zur Synthese der Proteine
benötigt werden, repräsentieren die
Antisense-Verbindungen (Oligonukleotide) 15 bis 25
Bausteine dieses Botenmoleküls in gegenläufiger
Anordnung. Trifft nun ein komplementär aufgebautes
Antisense-Oligonukleotid im Zellinneren auf das passende
m-RNA-Molekül, bilden beide einen Komplex. Kurz darauf
erkennen und zerstören spezielle Enzyme die RNA.
Entwicklung der Technik
Den hochspezifischen Prozeß entdeckte 1978 der
Biochemiker Paul Zamecnik. Er erkannte auch die
Möglichkeit, diese Technik zur Behandlung von bestimmten
Virus- und Krebserkrankungen, bei denen spezielle
Genprodukte im Überschuß auftreten. Vor zehn Jahren
gelang Wissenschaftlern erstmals der Nachweis, daß
Antisense-Moleküle gegen Virusinfektionen wirken. Die
Versuche am Tiermodell waren allerdings entmutigend. Die
Antisense-Oligonukleotide erwiesen sich als äußerst
instabil und wurden im Plasma innerhalb weniger Minuten
abgebaut.
Mittlerweile stehen analoge Verbindungen, die
Phosphorothioate, bei denen ein Sauerstoffatom des
Phosphates gegen ein Schwefelatom ausgetauscht wurde, zur
Verfügung. "Heute ist die Stabilität der
Antisense-Moleküle kein Problem mehr bei den klinischen
Anwendungen", berichtet Professor Dr. Fritz Eckstein
vom Göttinger Max-Planck-Institut für Experimentelle
Medizin, der diese modifizierten Moleküle erstmals
synthetisierte.
Die Wissenschaftler etablierten die neue Technik in
Zellkulturen und in Tiermodellen. 1992 zählte das
amerikanische Wissenschaftsmagazin "Science"
die Antisense-Technik zu den zehn "heißesten
Forschungsgebieten" des Jahres. Danach machte sich
unter den Wissenschaftlern jedoch Enttäuschung breit.
Die Wirkungsweise der Antisense-Verbindungen war weniger
spezifisch als erwartet.
Mittlerweile schreiben Forscher wie Sudhir Agrawal,
leitender Wissenschaftler der amerikanischen
Antisense-Firma Hybridon, einige dieser unspezifischen
Effekte den eingefügten Schwefelatomen zu. Hybridon
entwickelte unterdessen die zweite Generation von
Oligonukleotiden, die weniger stark in andere biologische
Prozesse eingreifen. "Die Antisense-Technik ist den
Kinderschuhen entwachsen", stellte Eckstein vor
kurzem auf einer in Cambridge, Massachusetts,
veranstalteten Konferenz fest, die dieser Technik
gewidmet war. Eckstein berichtet, daß die versammelten
Wissenschaftler inzwischen viele Probleme, unter anderem
die Applikation der Oligos, gelöst hätten und hofften,
bald Patienten mit dieser Technik helfen zu können,
Klinische Erfolge
Am weitesten ist die Entwicklung des antiviralen
Oligonukleotids ISIS 2922 gediehen, das die Vermehrung
des Cytomegalovirus hemmt. Das Virus zerstört bei vielen
Aids-Patienten die Netzhaut. Die Forscher injizieren das
Antisense-Oligonukleotid direkt in das Auge. Die
Verbindung wird mittlerweile in einer klinischen
Phase-III-Untersuchung von ISIS Pharmaceuticals, einer
kalifornischen Firma, getestet. Hybridon entwickelte
ebenfalls ein entsprechendes Oligonukleotid und hofft
durch weitere Modifizierung seiner Verbindung GEM 132
eine systemische Anwendung zu ermöglichen.
Auch bei der Behandlung des Morbus Crohn zeichnen sich
Erfolge ab. In einer placebokontrollierten Studie
verminderte die systemische Verabreichung des
Antisense-Oligonukleotids ISIS 2302 die Symptome und
reduzierte die Steroid-Abhängigkeit von fast der Hälfte
der 15 behandelten Patienten. ISIS 2302 induziert die
spezifische Zerstörung der Bauanleitung von
ICAM-1(intercellular adhesion molecule), einem Protein,
das Zellen bei entzündlichen Prozessen bilden. Deshalb
soll die Anwendung von ISIS 2302 auch bei Erkrankungen
wie rheumatoider Arthritis, Schuppenflechte und bei
Nierentransplantationen erprobt werden. Weitere Studien
mit ISIS 2302 finanziert nun Boehringer Ingelheim und
rechnet mit einer Markteinführung im Jahr 2001.
Obwohl die erste erfolgreiche klinische Anwendung eines
Oligonukleotids bei Tumoren der Eierstöcke kürzlich
vorgestellt wurde, stecken die Untersuchungen zur
Krebstherapie noch in den Anfängen. In Philadelphia hat
eine klinische Untersuchung zur Behandlung der
chronischen myeloischen Leukämie begonnen.
Obwohl diese Ergebnisse Optimismus unter den
Wissenschaftlern verbreiten, gibt es ungelöste Probleme.
Die Herstellung der Antisense-Verbindungen ist immer noch
recht teuer, ein Gramm Oligo kostet 500 bis 2000
US-Dollar. Deshalb sind große vorklinische Studien immer
noch recht teuer. Zu Beginn jeder neuen Untersuchung muß
eine große Anzahl verschiedener Oligonukleotide
synthetisiert und auf ihr Bindungsverhalten mit der m-RNA
getestet werden, da nicht alle Bereiche einer m-RNA
gleich gut zur Komplexbildung geeignet sind.
Noch immer reagieren einige der Antisense-Moleküle
unspezifisch. So blockiert das Oligo GEM 91 von Hybridon
nicht nur die Replikation von HIV, sondern verhindert
auch seine Bindung an die Zelloberfläche - eine
Nebenwirkung, deren Ursache bislang nicht aufgeklärt
wurde und zahlreiche andere Probleme im Organismus
bereiten könnte. Zur Zeit ist das Verhalten der
Antisense-Moleküle mit Hilfe von Computersimulationen
noch nicht vorhersagbar. Die Pessimisten unter den
Forschern glauben noch immer, daß weitere Nebeneffekte
die baldige praktische Anwendung dieser Moleküle
verhindern könnten. Eckstein teilt diese Bedenken nicht.
Nach seiner Meinung eröffnet die gegenwärtige Forschung
durch die genetische Analyse zahlreicher Krankheitsgene
und -erreger weitere sinnvolle Möglichkeiten für den
Einsatz von Antisense-Therapeutika.
PZ-Artikel von Angela Haese, Berlin
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