Pharmazie
Allein in Deutschland
leiden etwa 54 Millionen Menschen unter Kopfschmerzen.
Allein in den alten Bundesländern wurden 1993 über 160
Millionen Packungen Schmerzmittel im Wert von mehr als
einer Milliarde DM verkauft. Etwa 85 Prozent dieser
Präparate werden derzeit ohne ärztliche Verordnung
gekauft.
In dieses Umfeld hinein veröffentlichten die
Vorstände der beiden deutschen Fachgesellschaften der
Nephrologen eine Warnung, in der sie auf ein durch
Analgetika bedingtes erhöhtes Risiko für Nephropathien
hinweisen. Sie vertraten in ihrer öffentlichen
Erklärung die Auffassung, daß die aus unterschiedlichen
Wirkstoffen zusammengesetzten Kombinations-Analgetika bei
langjährigem Schmerzmittelmißbrauch häufiger
chronische Nephropathien verursachen als andere
rezeptfreie Schmerzmittel. Außerdem belasteten die
Nephrologen das Coffein. Es könne in den üblicherweise
in den Tabletten enthaltenen Mengen von 50 mg eine
Abhängigkeit auslösen, heißt es in dem Papier. Sie
forderten daher, diese Kombinations-Schmerzmittel nur
noch auf ärztliches Rezept abzugeben beziehungsweise die
Präparate ganz vom Markt zu nehmen.
Heftige Expertenkritik
Für die Behauptungen der Nephrologen fehlen
jedoch abgesicherte wissenschaftliche Beweise. So gibt es
anderen Stimmen zufolge bis heute keine Studie, die
tatsächlich belegt, daß Kombinations-Schmerzmittel mehr
Nierenschäden verursachen als schmerzlindernde
Einzelsubstanzen. In der PZ 46/96, Seite 48 bis 51, warf
der als Gutachter des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes
BGA bekannt gewordene Wissenschaftler Professor Dr. Dr.
Johannes Michael Fox aus Frankfurt den Vertretern der
Nephrologen vor, ein politisches Papier, aber keine
wissenschaftliche Analyse vorgelegt zu haben.
Auch andere Wissenschaftler halten die Position der
Nephrologen für wissenschaftlich nicht haltbar. So kam
Professor Dr. Donald J. Dalessio von der Scripps Clinic
and Research Foundation in La Jolla zu dem Schluß, daß
Coffein weder den Mehrverbrauch, noch den Mißbrauch von
Schmerzmitteln fördere. Nach den Analysen des Neurologen
bevorzugen Patienten mit chronischen Kopfschmerzen und
zum Teil täglicher Schmerzmitteleinnahme weder
Präparate mit Coffein, noch nehmen sie höhere Mengen
ein.
Die Beobachtung wird auch durch eine Umfrage des
Meinungsforschungsinstitutes Gallup bestätigt. In ihr
zeigte sich im Mai 1995, daß die Käufer ausgerechnet
dem Kombinations-Schmerzmittel mit dem höchsten
Coffeingehalt ihrem Produkt am wenigsten treu bleiben.
Außerdem wurde deutlich, daß die Käufer von
coffeinarmen oder coffeinfreien Präparaten mehr
Tabletten schluckten als die Käufer coffeinreicher
Tabletten.
Fox wies darauf hin, daß die Menge der Pro-Kopf-Einnahme
an Schmerzmitteln in Ländern wie den USA und
Großbritannien etwa doppelt so hoch sei wie in
Deutschland. In diesen Ländern sei aber andererseits der
Anteil an coffeinhaltigen Schmerzmitteln deutlich
niedriger, was zu bestätigen scheint, daß der
Coffeinzusatz offensichtlich mit der Menge der
eingenommenen Analgetika nichts zu tun hat.
Die Nephrologen machten sich jedoch nicht nur um das
Suchtpotential von Coffein Sorgen. Ausdrücklich bezogen
sie sich in ihrer Erklärung auf ein ähnlich lautendes
Positionspapier der amerikanischen National Kidney
Foundation. Darin wurde kaum ein Unterschied zwischen der
Gefährlichkeit des längst verbotenen Phenacetins und
den Phenacetin-freien Kombinations-Analgetika gemacht.
Mittlerweile deutet sich allerdings an, daß sowohl die
amerikanischen Nierenspezialisten als auch ihre deutschen
Kollegen voreilig argumentiert haben. Bereits kurze Zeit
später veröffentlichten die in den USA bekannten
Wissenschaftler Dr. Elisabeth Delzell und Dr. Samuel
Shapiro, Universität von Alabama, eine vernichtende
Analyse des Positionspapiers der National Kidney
Foundation. Danach entpuppten sich die darin
aufgestellten Behauptungen über die angebliche
Gefährlichkeit der Kombinations-Schmerzmittel alle als
unwissenschaftliche Spekulation. Die Studien weisen nach
dieser Analyse nicht nur erhebliche Mängel auf; die
Daten seien zudem auch noch in wissenschaftlich
unzulässiger Weise gedeutet worden, heißt es.
Verhältnisse in Australien wurden fehlgedeutet
Nach Auffassung von Delzell und Shapiro führt
insbesondere ein Hinweis auf in Australien gemachte
Erfahrungen in die Irre: Die Nephrologen hatten
behauptet, die Zahl der Nierenschäden auf dem fünften
Kontinent sei erst dann zurückgegangen, als zusätzlich
zum Phenacetinverbot auch alle Kombinations-Schmerzmittel
vom Markt genommen wurden. Damit war suggeriert worden,
daß sich Kombinations-Schmerzmittel als ähnlich
gefährlich erwiesen haben wie das Phenacetin. Laut
Delzell und Shapiro läßt sich dies aus den vorhandenen
wissenschaftlichen Daten jedoch keineswegs ableiten.
Daß Analgetika-bedingte chronische Nierenschäden mit
einer Latenzzeit von 10 bis 20 Jahren und erst nach
jahrzehntelangem massivem Schmerzmittelmißbrauch drohen,
ist inzwischen wissenschaftlich belegt. In Australien
wurden Phenacetin 1975 und alle rezeptfreien
Kombinations-Schmerzmittel 1979 vom Markt genommen. Man
kann daher davon ausgehen, daß die dort in den
zurückliegenden Jahren beobachteten Nierenschäden noch
auf den Phenacetinmißbrauch zurückzuführen waren und
nichts mit den Kombinations-Schmerzmitteln zu tun hatten.
Bei Langzeitgebrauch der Kombinations-Schmerzmittel ist
nach Fox die Gefahr eines Nierenschadens ähnlich minimal
wie bei der Langzeiteinnahme von Einzelsubstanzen.
PZ-Artikel von Jochen Kubitscheck, Waddewitz
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