Pharmazie
Trotz neuer Therapie-
und Diagnosemöglichkeiten gibt es keine Entwarnung an
der HIV-Front. Man unterscheidet heute neben dem vor
allem in Westafrika, Portugal und Indien verbreiteten
HIV-2a und b bereits zehn Subtypen von HIV-1. Während in
Europa noch vor einigen Jahren überwiegend HIV-lb
anzutreffen war - die heutige Therapie ist darauf
abgestimmt - werden jetzt häufiger andere Subtypen, vor
allem e, diagnostiziert. Subtyp e wird vorwiegend von
Sextouristen aus Thailand eingeschleppt, berichtete Dr.
Ursula Dietrich vom Georg-Speyer-Haus in Frankfurt.
Zwischen Virusinfektion und Krankheitsausbruch
liegen oft mehrere Jahre. Das bedeutet aber keineswegs,
daß HIV im Körper ruht. Vielmehr findet eine sehr
aktive Virusreplikation, täglich bis zu zehn Milliarden
Viruspartikel statt. Die Viren haben zwar nur eine
Halbwertszeit von wenigen Stunden bis Tagen, durch den
raschen Turnover entstehen jedoch zahlreiche neue
Virusvarianten, die teilweise nicht mehr von der
primären Immunantwort erkannt werden oder gegen ein
Virustatikum resistent sind. Diese Quasispezies variieren
bis zu fünf Prozent in ihrer Struktur.
Man weiß heute, daß das Ausmaß der frühzeitigen
Virusbelastung des Patienten (virus load) Bedeutung für
die weitere Prognose der Erkrankung hat. Patienten mit
langer Überlebenszeit und Langzeitinfizierte haben
initial eine geringe Viruslast. Nicht-infizierbare
Menschen haben häufig einen genetischen Defekt des
CCR5-Corezeptors, erläuterte Dietrich die neuesten
Forschungsergebnisse. Inzwischen ist bekannt, daß nicht
nur die CD4-Rezeptoren auf Makrophagen und Monozyten
notwendig sind für die HIV-Anlagerung und Penetration,
sondern auch Corezeptoren wie der CCR5-Chemokinrezeptor
oder der CXCR-4-Rezeptor. Ein neuer denkbarer
Therapieansatz wäre somit die Blockade dieser
Corezeptoren.
Das neue Wissen hat zu einer veränderten Strategie
geführt: "Hit hard and early." Heute gilt der
Wert von 10 000 HIV-RNA-Molekülen pro ml Plasma als
Richtwert für den Beginn der antiviralen Chemotherapie.
Seit letztem Jahr wurden fünf neue Virustatika in
Deutschland zugelassen. Es gibt inzwischen fünf
Nukleosidanaloga (Zidovudin, Didanosin, Zalcitabin,
Lamivudin und Stavudin), die die Reverse-Transkriptase
hemmen, sowie drei Protease-Inhibitoren (Ritonavir,
Saquinavir und Indinavir), die die virale Protease
blockieren. Nichtnukleosidische
Reverse-Transkriptase-Inhibitoren wie Nevirapin und
Lovirid reduzieren zwar initial die Viruslast, jedoch
entstehen sehr rasch Resistenzen.
Bevorzugt wird heute eine Dreifach-Kombination aus einem
Proteaseinhibitor und zwei
Reverse-Transkriptase-Inhibitoren. Durch Angriff an
verschiedenen viralen Enzymen soll die Virusreplikation
möglichst komplett unterdrückt werden. Tatsächlich
beobachtet man einen zweiphasigen Abfall: initial stark
und dann langsamer über Tage bis Wochen, wenn die
langlebigen infizierten Zellen sterben. Die Patienten
müssen dazu bis zu zwanzig Tabletten täglich zu
bestimmten Zeiten und in Abhängigkeit von der Mahlzeit
einnehmen. Die Biologin aus dem Georg-Speyer-Haus
forderte daher die Pharmaforschung auf, Arzneiformen zu
entwickeln, die die Wirkstoffe in langlebige Zellen oder
ins Gehirn bringen. Beispielsweise Liposomen und
Nanopartikel könnten hier einen Ansatz bieten.
Die Heterogenität der Viren stellt die Diagnostik immer
wieder auf die Probe. HIV-1 und HIV-2 variieren um bis zu
50 Prozent. 30 Prozent Divergenz zeigen die Subtypen der
beiden HIV-Familien. Herkömmliche Tests erfassen nicht
alle Subtypen, können sie nicht differenzieren oder
erfassen keine Doppelinfektion. Am Georg-Speyer-Haus
wurde daher ein neuer Test entwickelt, der die V3-Region
des env-Gens erfaßt. Je nach HIV-Subtyp ergeben sich
verschiedene Reaktionsmuster. In einer retrospektiven
Studie wurden mit dem ELISA-Test an sechs deutschen
Zentren je 300 Serumproben aus den Jahren 1985, 1990 und
1996 (je 100) untersucht. Von 1985 bis 1996 stieg der
Anteil der non-HIV-1b-Viren von 5,8 auf 13,3 Prozent an.
PZ-Artikel von Brigitte M. Gensthaler, Meran
© 1997 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de