Nur wenige Alzheimer-Patienten für Lecanemab geeignet |
Annette Rößler |
15.11.2024 12:54 Uhr |
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es in der EU bald den ersten therapeutischen Antikörper bei Alzheimer-Erkrankung geben. Längst nicht alle Patienten kommen allerdings für die Therapie infrage. / © Adobe Stock/pololia
Die gestrige Entscheidung der EMA, für eine Zulassung von Lecanemab (Leqembi®) in der EU zu plädieren, kam für viele Beobachter überraschend. Denn die Behörde hatte sich im Juli aufgrund von Sicherheitsbedenken zunächst dagegen ausgesprochen. Da die Gefahr bestimmter hirnorganischer Nebenwirkungen, sogenannter Amyloid-bedingter Bildgebungsanomalien (ARIA), unter Lecanemab nach wie vor besteht, schloss die EMA bei ihrer Empfehlung allerdings bestimmte Patienten aus, deren Risiko hierfür besonders hoch ist.
Kommt die erwartungsgemäße EU-Zulassung von Leqembi, wird das Medikament somit nicht bei Patienten eingesetzt werden dürfen, die zwei Kopien des Alzheimer-Risikogens ApoE4 tragen. Diese machen laut einer Studie, die im Mai 2024 im Fachjournal »Nature Medicine« erschien, weltweit zwar nur 2 bis 4 Prozent der Bevölkerung aus. Unter den Alzheimer-Patienten sind jedoch laut derselben Studie etwa 15 bis 20 Prozent homozygot bezüglich dieses Merkmals. Diese Menschen entwickeln im Durchschnitt bereits mit 65 Jahren Demenz-Symptome; die Krankheit manifestiert sich damit bei ihnen etwa zehn Jahre früher als bei anderen Patienten mit seniler Alzheimer-Erkrankung.
Die genetische Risikokonstellation muss also vor dem Einsatz von Lecanemab per Gendiagnostik ausgeschlossen werden. Weitere Aus- und Einschlusskriterien für den Erhalt der Therapie listet die Deutsche Hirnstiftung in einer Pressemitteilung auf. Sie weist zunächst darauf hin, dass Lecanemab nur bei Alzheimer-Demenz wirksam ist und dass daher vor der Therapie der Nachweis einer Amyloid-Pathologie erbracht werden muss. Zudem darf die Demenz noch nicht zu weit fortgeschritten sein, denn Lecanemab ist lediglich für den Einsatz bei Patienten mit milder kognitiver Einschränkung (MCI) und früher Alzheimer-Demenz empfohlen.
ARIA können sich in Form von Schwellungen (ARIA-E) oder kleinen Blutungen (ARIA-H) des Gehirns manifestieren. Vor und während der Therapie mit Lecanemab müssen die Patienten per Hirnscan untersucht werden, um das individuelle Risiko für diese Nebenwirkung abzuschätzen. Die Einnahme von blutverdünnenden Medikamenten erhöht das Risiko für ARIA-H zusätzlich. Eine medikamentöse Antikoagulation stelle daher laut EMA-Empfehlung eine Kontraindikation für eine Therapie mit Lecanemab dar, wie die Hirnstiftung betont.
»Rund eine Million Menschen in Deutschland nehmen regelmäßig Blutverdünner ein, die meisten von ihnen sind älter«, erklärt die Präsidentin der Hirnstiftung und Alzheimer-Expertin Professor Dr. Kathrin Reetz. »Es liegt also auf der Hand, dass viele Alzheimer-Betroffene die neue Therapie aus Sicherheitsgründen nicht erhalten dürfen.«
Die Alzheimer Forschung Initiative weist ebenfalls in einer Pressemitteilung auf eine weitere mögliche Einschränkung hin: Es sei bisher unklar, ob und wie sehr Frauen von einer Leqembi-Behandlung profitieren. Die entsprechende Information versteckt sich im Appendix der Publikation der zulassungsrelevanten Phase-III-Studie im »New England Journal of Medicine« aus dem Jahr 2022 (DOI: 10.1056/NEJMoa2212948). Demnach verlangsamte sich der Krankheitsverlauf unter Lecanemab-Therapie bei Männern durchschnittlich um 43 Prozent, bei Frauen aber nur um 12 Prozent. »In weiteren Studien muss deshalb dringend erforscht werden, ob dieser Unterschied Bestand hat und was die Gründe dafür sind«, so die Alzheimer Forschung Initiative. Rund zwei Drittel aller Menschen mit Alzheimer seien Frauen.
Insgesamt kämen für eine Therapie mit Lecanemab wohl nur 5 bis 10 Prozent der Alzheimer-Patienten infrage. Diese Zahl nannte Professor Dr. Stefan Teipel, Leiter der Forschungsgruppe Klinische Demenzforschung am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Rostock/Greifswald, in einem Pressebriefing des Science Media Center Deutschland. Bei 250.000 inzidenten Fällen in Deutschland pro Jahr wären das 12.500 bis 25.000 Patienten. Allerdings sei Lecanemab in den USA im ersten Jahr nach der Zulassung nur sehr zurückhaltend eingesetzt worden, nämlich nur bei 3500 Patienten. »Heruntergerechnet auf Deutschland würde das etwa 800 Patienten pro Jahr entsprechen«, sagte Teipel.