| Theo Dingermann |
| 30.12.2025 18:00 Uhr |
Einer aktuellen Metaanalyse zufolge haben Cannabis-Präparate geringe bis gar keine Effekte auf chronische Schmerzen. / © Adobe Stock/EKKAPON
Für die Wirksamkeit von Cannabinoid-Präparationen herrscht nach wie vor eine deutliche Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und wissenschaftlicher Realität. Erst vor Kurzem zeigte eine Metaanalyse zu therapeutischem Cannabis, dass für dieses nur bei wenigen Indikationen Evidenz für eine Wirksamkeit vorliegt. Nun belegt eine Metaanalyse speziell für chronische Schmerzen, dass Cannabinoid-Präparate nur marginale Effekte haben.
Forschende um Professor Dr. Roger Chou von der Oregon Health & Science University in Portland, USA, haben studienübergreifend Daten zur Wirksamkeit cannabisbasierter Produkte bei chronischen Schmerzen ausgewertet, um ein Bild zur aktuellen Evidenzlage zu erhalten. Ihre Metaanalyse, deren Ergebnisse im Fachjournal »Annals of Internal Medicine« publiziert wurden, basiert auf 25 randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt 2303 Patienten, die über einen Zeitraum von einem bis sechs Monaten behandelt wurden. Die Ergebnisse sind wenig überraschend: Es zeigte sich, dass lediglich bestimmte pharmazeutische Cannabinoid-Präparate eine geringe bis moderate Schmerzlinderung bewirken können, die allerdings mit erheblichen Nebenwirkungen einhergehen.
Untersucht wurden Präparationen mit dem synthetische Tetrahydrocannabinol(THC)-Analogon Nabilon, dem synthetischen THC-Präparat Dronabinol und Nabiximols, ein oromukosales Spray mit ausgewogenem Verhältnis von THC und Cannabidiol (CBD).
Nabilon erwies sich in der Metaanalyse als das wirksamste der untersuchten Präparate und reduzierte neuropathische Schmerzen in vier Studien mit 100 Patienten um durchschnittlich 1,59 Punkte auf einer Schmerzskala von 0 bis 10. Dies entspricht einer moderaten Effektstärke.
Im direkten Vergleich zeigte das strukturell ähnliche synthetische THC-Präparat Dronabinol in vier Studien, und 407 Patienten überraschenderweise keine oder nur marginale Effekte mit einer mittleren Differenz von lediglich -0,23 Punkten. Dieser statistisch signifikante Unterschied zwischen beiden Substanzen (P=0,027) wirft grundlegende Fragen auf, wie gut die verschiedenen THC-Derivate vergleichbar sind, und zeigt, dass es notwendig ist, die Produkte in der klinischen Forschung deutlicher zu differenzieren.
Über zwei Studien haben wir zwischen den Jahren auf PZ-online berichtet, in denen die Evidenzlage zu Cannabis-Präparationen bei chronischen Schmerzen kritisch hinterfragt wurde (neben diesem Beitrag auch über eine weitere Übersichtsarbeit zu therapeutischem Cannabis). Und in beiden Publikationen waren die Daten überwiegend bescheiden. Das kommt nicht bei jedem gut an, wie auch Anfragen an die Redaktion zeigten.
In guter journalistischer Manier sehen wir in aller Regel davon ab, in derartige Berichte unsere eigene Meinung einfließen zu lassen. Das ist offensichtlich nicht immer so klar, weshalb an dieser Stelle noch darauf hingewiesen wird.
Meinungen äußern wir in Kommentare wie diesem. Zu diesem Kommentar sah ich mich veranlasst, weil mir bei Recherchen eine andere Publikation auffiel, über die wir bereits im Oktober berichtet hatten. Hier ging es um das Opioid Tramadol, das offensichtlich bei chronischen Schmerzen nicht besser abschneidet als die Cannabis-Präparationen, über die ich in dieser Woche berichtet hatte.
Sind wir zu streng mit Cannabis, habe ich mich spontan gefragt? Ich glaube nicht. Wir sind nur ehrlich mit Cannabis, sollten das aber auch bei Alt-Präparaten sein, die oft eine ähnliche Evidenz-Bringschuld aufweisen, wie dies von Cannabis-Präparationen immer und zurecht gefordert wird.
Professor Dr. Theo Dingermann
PZ-Senior Editor
Nabiximols demonstrierte in sieben Studien mit 702 Patienten eine geringfügige Schmerzreduktion von 0,54 Punkten bei moderater Evidenzstärke, zeigte jedoch in sechs Studien mit 616 Patienten keinen oder nur einen marginalen Effekt auf die funktionelle Kapazität der Patienten (mittlere Differenz: -0,42).
Besonders ernüchternd fallen die Ergebnisse für CBD in isolierter Form aus. Trotz der weit verbreiteten Anwendung und des kommerziellen Erfolgs von CBD-Produkten zur Schmerzbehandlung konnte die Metaanalyse in vier Studien mit 334 Patienten keine oder nur marginale Effekte auf die Schmerzintensität nachweisen (mittlere Differenz: 0,40 Punkte). Auch hinsichtlich funktioneller Verbesserungen blieb CBD in drei Studien mit 272 Patienten wirkungslos (standardisierte mittlere Differenz: 0,11 Punkte).
Die Nebenwirkungsprofile der THC-haltigen Präparate geben allerdings Anlass zur Besorgnis und müssen bei jeder therapeutischen Entscheidung sorgfältig gegen die moderate Schmerzreduktion abgewogen werden.
Bei hochdosierten THC-Produkten trat Schwindel bei 33,4 Prozent der Patienten auf, verglichen mit 14,6 Prozent unter Placebo, was einem relativen Risiko (RR) von 2,30 entspricht. Sedierung wurde bei 24,2 Prozent der mit THC behandelten Patienten beobachtet gegenüber 15,6 Prozent in der Placebogruppe (RR: 1,57). Übelkeit trat mehr als doppelt so häufig in der Verumgruppe auf (12,2 Prozent versus 6,1Prozent; RR: 2,12). Besonders bedeutsam ist die nahezu verdoppelte Rate an Studienabbrüchen aufgrund von Nebenwirkungen bei THC-haltigen Produkten (14,0 Prozent versus 6,5 Prozent; RR 1,92).
Nabiximols zeigte ein noch ungünstigeres Nebenwirkungsprofil mit einem 3,57-fach erhöhten Risiko für Schwindel (31,0 Prozent versus 8,0 Prozent unter Placebo) und einem 5,04-fach erhöhten Risiko für Sedierung (8,0 Prozent versus 1,2 Prozent). Diese Zahlen verdeutlichen, dass nahezu jeder dritte Patient unter einer THC-haltigen Therapie mit Schwindel und etwa jeder vierte mit Sedierung zu rechnen hat, Nebenwirkungen, die insbesondere bei älteren Patienten, Personen mit Sturzrisiko oder Patienten, die Maschinen bedienen oder am Straßenverkehr teilnehmen, Sicherheitsbedenken aufwerfen.
Ein begleitender Editorial-Kommentar von Dr. Ziva Cooper vom Center for Cannabis and Cannabinoids der University of California in Los Angeles, USA, ordnet diese Befunde vor dem Hintergrund einer regulatorischen und klinischen Diskrepanz ein: Obwohl 39 US-Bundesstaaten und Washington D.C. medizinisches Cannabis legalisiert haben und chronische Schmerzen den häufigsten Grund für dessen medizinische Anwendung darstellen, hat bislang kein einziges Cannabis-Produkt die Zulassungsstandards der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA für die Indikation chronischer Schmerz erfüllt. Die Cannabisnutzung erfolgt somit weitgehend außerhalb etablierter evidenzbasierter medizinischer Rahmenbedingungen, was erhebliche Herausforderungen für die Patientensicherheit und die klinische Versorgungsqualität mit sich bringt.
Die Editorial-Autorin würdigt die systematische Übersichtsarbeit als die bisher methodisch rigoroseste Aufarbeitung der Evidenzlage und hebt vier essenzielle Variablen hervor, die für eine angemessene Beurteilung cannabisbasierter Schmerztherapien berücksichtigt werden müssen:
Die Expertin bestätigt, dass THC-haltige Präparate zwar eine statistisch signifikante Schmerzreduktion bewirken können, diese Effekte jedoch durch die begleitenden Nebenwirkungen erheblich relativiert werden.
Zusammenfassend belegt die Übersichtsarbeit, dass bestimmte pharmazeutische Cannabinoid-Präparate, insbesondere Nabilon und Nabiximols, kurzfristige Schmerzlinderungen bei neuropathischen Schmerzen bewirken können. Diese Effekte fallen jedoch gering bis moderat aus und gehen mit erheblichen Nebenwirkungen einher. Die Evidenz stützt die weit verbreitete Anwendung von CBD zur Schmerzbehandlung nicht.
Kritische Evidenzlücken bestehen hinsichtlich Langzeitsicherheit, der Übertragbarkeit auf pflanzliche Präparationen und der Anwendbarkeit auf nicht-neuropathische Schmerzerkrankungen.