Um dem anderen gegenüber jedoch wertschätzend und freundlich auftreten zu können, muss ich bei mir selbst anfangen, sagt Karalus. Ich muss mir die Zeit nehmen, um mich selbst zu reflektieren und zu hinterfragen, was mir wichtig ist. Und auch, warum ich von dem anderen so getriggert werde und dann zwei Sätze reichen, dass ich mich nicht mehr in den Griff bekomme. »Weil es in Wirklichkeit nämlich um meine Identität geht und Dinge, die mir wichtig sind – und ich dann überreagiere.«
Ideal wäre es, in einer solchen Situation dann so stark zu sein, dass man es nicht auf eine Eskalation ankommen lässt: »Wenn ich weiß, dass ich Zeit brauche, weil ich sonst Dinge sage, die ich nicht mehr zurücknehmen kann und die verletzen, dann sollte ich den Streit abbrechen«, sagt die Kommunikationsexpertin. Eine solche persönliche Auseinandersetzung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, kann also sinnvoll sein – und hat nichts mit grundsätzlicher Streitvermeidung zu tun: »Team Harmonie ist nicht die Lösung. Das ist nur so, als ob man einen Teppich über die Probleme deckt.«
Auch Boeser ist überzeugt, dass die Vermeidung von Streit nur weitere Schwierigkeiten verursacht und ebenso wie feindseliger Streit auf Dauer soziale Beziehungen zerstört. »Denn dann kommt man automatisch an den Punkt, dass man irgendwann platzt.«
Damals wie heute ist die Aufforderung: »Hört auf zu streiten!« also auf jeden Fall falsch. »Die Aussage, das machen nur die, die böse sind, ist gelogen«, sagt Karalus. »Es sind die Guten, die streiten – weil sie wollen, dass wir gemeinsam vorankommen.«