| Daniela Hüttemann |
| 08.09.2021 14:30 Uhr |
Kinder mit Leptin-Mangel oder -Resistenz leiden dauerhaft an starken Hungergefühlen. Eine klassische Diät und mehr Sport allein reichen hier oft nicht. / Foto: Getty Images/Jose Luis Pelaez Inc
Den Hormonspezialisten zufolge liegt die Ursache bei starkem Übergewicht im Kindesalter selten an Fehlernährung und Bewegungsmangel, sondern einer Stoffwechselstörung. »Eine extreme Adipositas in jungen Lebensjahren ist kein Verschulden der Eltern oder der betroffenen Kinder und Jugendlichen oder gar ein selbst gewählter Zustand, sondern vielmehr das Ergebnis einer hormonellen Fehlregulation der Körpergewichtsregulation«, betont Professor Dr. Martin Wabitsch, Sektionsleiter Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Ulm. In Deutschland leiden schätzungsweise knapp 6 Prozent aller Kinder rund Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren an krankhaftem Übergewicht. Dabei steigt die Prävalenz bei Jungen und Mädchen gleichermaßen mit dem Alter an.
Bei starker Adipositas liegt vermutlich ein Leptin-Mangel vor. Dieses Hormon wurde erst vor rund 25 Jahren entdeckt. Es wird im Fettgewebe gebildet und ist an der Regulation von Hunger und Sättigung stark beteiligt. Im Gehirn wirkt Leptin auf alle hormonellen Regulationszentren und meldet dort die Energiereserven (Fettdepots), die für alle Prozesse im Körper sowie für Wachstum und Entwicklung gebraucht werden. »Erhält das Gehirn angesichts eines Leptin-Mangels das Signal, dass dem Körper zu wenig Energie zur Verfügung steht, setzt es einerseits eine Art Energie-Sparprogramm in Gang – beispielsweise wird die Körpertemperatur herunterreguliert, der Energieumsatz verringert, das Höhenwachstum verlangsamt, die Pubertätsentwicklung ausgesetzt oder auch spontane körperliche Bewegung gemieden«, erklärt Wabitsch.
Andererseits löse der Mangel an Leptin ein sehr starkes Hungergefühl aus, damit der Körper baldmöglichst wieder neue Nahrungsenergie bekommt. Der Ulmer Hormonexperte spricht von einem Teufelskreis, in den die Betroffenen geraten. Bei niedrigen Leptin-Spiegeln würden die Gedanken der betroffenen Kinder ständig ums Essen kreisen. Mit einem klassischen Diät- und Bewegungsprogramm allein käme man hier daher nicht weiter. »Durch sehr effektive hormonelle und neuronale Regelkreise wehrt sich der Körper bei niedrigen Leptin-Spiegeln gegen eine langfristige Gewichtsabnahme und tendiert dazu, ein einmal erreichtes Höchstgewicht wiederzuerlangen«, erklärt Wabitsch.
Grund kann ein angeborener Leptin-Mangel oder ein angeborener Fettgewebsmangel (Lipodystrophie) sein, doch dies sei eher selten der Fall. »Die meisten Kinder mit Adipositas weisen keine erniedrigten Leptin-Spiegel auf, sondern eine Leptin-Resistenz. Das im Fettgewebe gebildete Leptin wirkt an den Leptin-Rezeptoren im Gehirn nicht mehr so, wie es soll«, so der Kinder- und Jugendendokrinologe. Hier wird an ursächlichen Therapiemöglichkeiten geforscht, zum Beispiel an aktivierenden Antikörpern am Leptin-Rezeptor oder an nachgeschalteten Rezeptoren.
Noch ist die Therapie äußerst schwierig und langwierig. »Adipositas bei Kindern ist eine chronische Erkrankung. Sie erfordert gemäß wissenschaftlicher Leitlinien eine lebenslange ganzheitliche, stadiengerechte und individuell abgestimmte Behandlung mit konservativen, pharmakologischen und chirurgischen Therapieansätzen«, so Wabitsch. Bei den Medikamenten könnte mit Semaglutid mittelfristig eine neue Option hinzukommen. In den USA ist der Glucagon-Like-Peptide-1 (GLP-1)-Rezeptoragonist bereits zur Behandlung von Erwachsenen mit Adipositas zugelassen, denn er kann den Appetit reduzieren. Eine Studie mit Teenagern läuft noch.
Wichtig ist in jedem Fall, den Kindern und Eltern den Druck und die Schuldgefühle zu nehmen. »Die meisten Menschen, inklusive der Eltern adipöser Kinder, verstehen diesen hormonellen Mechanismus zur Regulation des Körpergewichts nicht – was Befragungen zufolge auch auf mehr als 50 Prozent der Mitarbeiter unseres Gesundheitssystems zutrifft«, ergänzt der Mediensprecher der Fachgesellschaft, Professor Dr. Stephan Petersenn. Daher werde die Verantwortung ungerechtfertigterweise meist den adipösen Kindern und Jugendlichen zugeschoben, die neben Diskriminierung und Stigmatisierung zusätzlich unter einem verminderten Selbstwertgefühl und Schuldgefühlen litten. »Der bisher gängige Blickwinkel zur Entstehung und Therapie von Adipositas ist falsch und erfordert unbedingt eine Korrektur«, so Petersenn.