»Nicht zu impfen, provoziert Infektionen« |
Das Risiko, sich in Südostasien, China, Japan oder Südosten der USA ungeimpft mit Dengue zu infizieren, ist derzeit für Reisende sehr reell vorhanden. Reisemediziner empfehlen deshalb entgegen der STIKO-Empfehlung die Prophylaxe mit dem neuen Impfstoff Qdenga. / Foto: Getty Images/hyejin kang
Die Infektionsfälle sind so hoch wie nie: Immer mehr Reisende bringen das von der Asiatischen Tigermücke und der Gelbfiebermücke übertragene Dengue-Fieber mit heim, wie Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigen. Demnach wurden in Deutschland in den ersten 17 Wochen dieses Jahres 737 Dengue-Fälle übermittelt. Im Vorjahr waren es im gleichen Zeitraum 174 Fälle.
Grund sind die in vielen Ländern erheblich gestiegenen Fallzahlen, informiert das »Epidemiologische Bulletin 20/21« . Ein Beispiel dafür ist Brasilien. Seit Jahresbeginn wurden dort mehr als fünf Millionen Infektionen mit dem Dengue-Virus registriert – die bislang höchsten Fallzahlen in dem südamerikanischen Land. Neben Brasilien zählen vor allem Indonesien und Thailand zu den Ländern, aus denen die Reiserückkehrer in den ersten 17 Wochen dieses Jahres Dengue mit nach Deutschland brachten, zeigen die RKI-Daten. Eine weltweite Übersicht über aktuelle Ausbrüche ist auf der Webseite des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) zu finden.
»Dengue ist die sich am schnellsten ausbreitende Infektionskrankheit weltweit. Die Zahlen sind auf allen Erdteilen so hoch, dass man ohne Weiteres von einer Pandemie sprechen kann«, sagt Jelinek im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. Seit 2010 sind auch in Südeuropa, etwa in Italien, Frankreich und Spanien, kleinere Cluster von autochthonen Übertragungen aufgetreten, also jene Infektionen, die die in der Region lebenden Betroffenen vor Ort durch Stechmücken erworben haben.
»Im Westen haben wir Dengue weitgehend ignoriert, weil es uns wenig betrifft. Gleichwohl ist es die wichtigste Krankheit, zu der Mediziner Reisende beraten müssen. Das Risiko, sich in zahlreichen Risikogebieten zu infizieren, ist für Reisende sehr reell vorhanden, wie die gestiegenen Importzahlen beweisen.«
Umso unverständlicher ist für den renommierten Reisemediziner die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO), die seit eineinhalb Jahren verfügbare tetravalente attenuierte Lebendvakzine Qdenga® nicht als generelle Dengue-Prävention einzusetzen und ihre Verwendung nur auf Personen zu reduzieren, die bereits infiziert waren. »Eine gebremste Umsetzung der jetzt verfügbaren Möglichkeiten zur Prävention setzt Betroffene einem unnötigen Risiko durch die Infektion aus. Mit anderen Worten: Die derzeitige STIKO-Empfehlung provoziert Infektionen.«
Zwar sei auch Qdenga kein idealer Impfstoff, jedoch biete er eine deutliche Protektion gegen ein in vielen Ländern häufiges Virus, das schwere Krankheitsmanifestationen und in seltenen Fällen auch tödliche Komplikationen verursachen kann. Und: »Die Impfung bietet deutlich besseren Schutz als die reine Expositionsprophylaxe, die die einzige Alternative darstellt.« Das seit 2018 verfügbare Dengvaxia® ist dagegen nur für Menschen zugelassen, die bereits eine Dengue-Infektion durchgemacht haben und in einem Endemiegebiet leben. Für Reisende aus Deutschland steht diese Vakzine außerhalb der Verbreitungsgebiete also nicht zur Verfügung.
Die STIKO-Empfehlung zu Qdenga basiere auf den Bedenken, die sich durch die Verwendung von Dengvaxia entwickelt hätten, erklärt der wissenschaftliche Leiter des CRM. Stichworte: Verstärkung der Effekte der Wildinfektion durch die bereits aufgrund der Impfung vorliegenden Antikörper. »Der neue Impfstoff Qdenga hat dieses Problem aber nicht. Bis jetzt gibt es nach mehr als 6 Jahren Nachbeobachtung der initialen Studienkohorte keine Infektionsverstärkung oder sonstiges Sicherheitssignal. Insofern ist es für mich nicht ersichtlich, warum man Reisenden in Endemiegebiete Qdenga vorenthalten sollte.« Im Gegensatz zur STIKO empfehlen etwa die Fachgesellschaft Reisemedizin oder mit Einschränkungen auch die Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin, Reisemedizin und Globale Gesundheit diese Reiseimpfung, basierend auf der Zulassung ab dem 4. Lebensjahr.
Laut diesen Fachgesellschaften reicht auch eine einmalige Impfung vor der Ausreise für einen vorläufigen Schutz aus. Die zweite Impfung verbessere die Protektion nach Zulassungsdaten nicht, sondern verlängere ihn, erklärt Jelinek. »Hierbei mag es im Hinblick auf eine optimale Immunantwort sinnvoll sein, die Zweitimpfung tendenziell eher erst nach einem Jahr zu applizieren.« Die STIKO empfiehlt dagegen vor der Ausreise ausschließlich die zweimalige Impfung mit einem Mindestabstand von drei Monaten.
Die meisten Dengue-Infektionen – es gibt vier verschiedene Virus-Serotypen; die Infektion mit einem Serotyp schützt nicht vor den anderen drei – verlaufen asymptomatisch. Sie können aber auch zu einer grippeähnlichen Erkrankung führen, die nach einer Inkubationszeit von wenigen Tagen plötzlich einsetzt, meist mit hohem Fieber, Kopfschmerzen, Schüttelfrost und heftigen Knochen- und Gelenkschmerzen.
Eine zweite Infektion kann äußerst heimtückisch verlaufen: Wenn es nämlich zum Immunphänomen kommt, dass die Antikörper, die nach der ersten Infektion gebildet wurden, paradoxerweise dem neuerlichen Virus den Eintritt in die Wirtszellen erleichtern – was einen Zytokinsturm und in der Folge einen hämorrhagischen Verlauf wahrscheinlich macht. Die Mortalität bei schweren Verläufen liegt bei 1 bis 5 Prozent.
Sehr zu begrüßen ist laut Jelinek der jüngste Neuzugang unter den Reiseimpfungen, der gerade seine Zulassung von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA erhalten hat und voraussichtlich im 1. Quartal 2025 in Deutschland verfügbar sein wird: der attenuierte Lebendimpfstoff Ixchiq® – die erste in Europa verfügbare Vakzine gegen das Chikungunya-Fieber bei Erwachsenen.
Die Erkrankung wird von dem gleichnamigen Virus aus der Familie der Arboviren verursacht, das in Europa nicht endemisch ist, bislang also keine stabilen Populationen gebildet hat. Die meisten der in Europa registrierten Fälle von Chikungunya-Fieber betreffen daher Reisende, die sich in den Tropen oder Subtropen infiziert haben. Vor allem in Süd- und Mittelamerika kommt es immer wieder zu großen Ausbrüchen. »Es gibt jedoch immer wieder Einzelfälle, in denen es ausgehend von infizierten Reisenden auch in Europa zu Chikungunya-Übertragungen kommt«, sagt Jelinek.
Hauptüberträger ist die tagaktive asiatische Tigermücke Aedes albopictus, die sich zunehmend in europäischen Urlaubsländern wie Spanien, Kroatien oder Frankreich ausbreitet. Selbst in Süddeutschland gibt es stabile Populationen. Im Zuge des Klimawandels rechnet Jelinek mit einer weiteren Ausbreitung in europäischen Gefilden sowohl der Mücke als auch des Chikungunya-Virus.
Eine Chikungunya-Infektion macht sich fast immer vier bis sieben Tage nach dem infektiösen Stich mit Fieber und starken Gelenkschmerzen bemerkbar. Auch Kopf- und Muskelschmerzen, Gelenkschwellungen oder Hautausschläge können auftreten. Bei den meisten Patienten lassen die Symptome nach wenigen Tagen von selbst wieder nach. In 5 bis 10 Prozent der Fälle leiden die Betroffenen jedoch mehrere Monate oder sogar Jahre unter den Gelenkschmerzen und sind dadurch stark eingeschränkt. »Für Säuglinge, ältere Menschen oder chronisch Kranke kann eine Infektion lebensgefährlich werden«, sagt Jelinek. Eine zugelassene Behandlung für Chikungunya gibt es bislang nicht.
»Freilich sind Impfungen vor mobilen Krankheitserregern immer zu überdenken, in jedem Fall sinnvoll aber ist ein guter Basisimpfschutz.« Jelinek plädiert dafür, in der reisemedizinischen Beratung besonderen Wert auf den Schutz vor »alltäglichen Krankheiten wie Keuchhusten, Zoster, Masern, Diphtherie oder auch FSME durch Zecken zu legen und die Chance zu Auffrischimpfungen zu nutzen«.
Die Reisemedizin hält Jelinek für eine geeignete Sparte, Impfquoten zu verbessern, »weil unsere Kundschaft ohnehin impfaffiner ist. Schließlich sucht sie uns mit dem Gedanken auf, präventiv tätig zu werden«. Jelinek beklagte eine gestiegene Impfskepsis bedingt durch die Pandemiezeit.
Bedauerlich sei auch das Wiederaufleben so einiger Infektionskrankheiten durch die Coronazeit. »Weil Präventionsmaßnahmen reduziert wurden und besonders Impfkampagnen gegen Masern eingestellt wurden, sehen wir nun die Konsequenzen.« So steigen in einigen (Nachbar-)ländern wie der Schweiz, England und Russland die Fallzahlen. Viele Länder, die vor der Pandemie als masernfrei galten, melden wieder Infektionen, etwa auf dem amerikanischen Kontinent.
Um den allgemeinen Impfwillen ist es in Deutschland ohnehin nicht gut bestellt. »Bei der adulten Vakzinierung liegt Deutschland regelmäßig ganz hinten.« So etwa bei einer EU-weiten Umfrage zu Durchimpfungsraten von Basisimmunisierungen wie Tetanus, Masern, Pneumokokken und Co. Großbritannien habe »dramatisch bessere Impfraten etwa bezüglich Influenza, Meningo- oder Pneumokokken«.
Woran liegt das? »Gesundheitsprävention hat hierzulande in der Politik und im ärztlichen Handeln keine hohe Priorität«, deutet Jelinek einer der Gründe aus. Zudem vermisst er niederschwellige Angebote. Insofern würde er es sehr begrüßen, wenn Apotheker die Möglichkeit bekommen würden, mehr zu impfen. »Im Gegensatz zu einigen meiner Standesvertreter bin ich überhaupt kein Gegner dieser Maßnahme. Die Erfahrung in vielen anderen Ländern zeigt eindeutig, dass durch die niederschwellige Möglichkeit, sich in Apotheken impfen zu lassen, die Impfquoten steigen.« Jelinek macht einen weiteren bemerkenswerten Hinweis: »Impfen muss fair vergütet werden. Momentan ist es so, dass man es sich als Facharzt gar nicht ernsthaft überlegt.«
Jeder einzelne könne dazu beitragen, die Verbreitung etwa von Dengue- oder Chikungunya-Viren hierzulande möglichst zu verhindern, appellieren Reise- und Tropenmediziner an den Präventionswillen der Bevölkerung. Wer im Sommer aus einem Endemiegebiet zurückkehrt oder hierzulande in einer Region lebt, in der Tigermücken verbreitet sind – zu den Gebieten gehören etwa die Region Oberrhein und der Süden Bayerns; auch in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Thüringen und Berlin wurden schon Tigermücken nachgewiesen – sollte auch nach der Rückkehr noch für mindestens zwei Wochen konsequenten Mückenschutz mit Repellentien betreiben.
»In der Theorie ist diese Vorgehensweise gar nicht so schlecht. Die meisten dieser Infektionen verlaufen asymptomatisch. Die Viruslast im Blut reicht aber dennoch aus, dass sich Mücken damit infizieren und das Virus unbemerkt in neue Regionen tragen können. Das Virus würde dann autochthon übertragen werden. Aber zu erwarten, dass Reiserückkehrer intensiv Repellents verwenden, um die Mücken vor sich zu schützen, ist eher unrealistisch«, gibt Jelinek zu bedenken.