Nicht schmerzhaft, aber äußerst schädlich |
Annette Rößler |
13.06.2025 18:00 Uhr |
Im Zuge einer Diabetes-Erkrankung können Nerven geschädigt werden. Diese diabetische Neuropathie ist nicht reversibel. Auch das autonome Nervensystem kann betroffen sein. / © Getty Images/Kateryna Kon/Science Photo Library
Ein erhöhter Ruhepuls, dyspeptische Beschwerden, sexuelle Funktionsstörungen und Schweißsekretionsstörungen – all dies können Symptome einer Diabetes-bedingten Schädigung des autonomen Nervensystems sein (siehe Kasten). »Häufig sind es schambesetzte Symptome wie Verdauungsstörungen oder sexuelle Funktionsstörungen, die die Patienten selbst nicht in Verbindung mit ihrer Diabetes-Erkrankung bringen«, sagte Dr. Gidon J. Bönhof vom Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) an der Universität Düsseldorf kürzlich bei einer Online-Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG).
Ärzte sollten sich bei ihren Patienten aktiv nach möglichen Symptomen einer autonomen diabetischen Neuropathie (ADN) erkundigen: »Wir müssen bei Behandlern und Behandelten ein Bewusstsein dafür wecken«, betonte Bönhof. Denn eine ADN ist nicht selten: Laut einer DDG-Praxisempfehlung aus dem Jahr 2021 liegt bei jedem fünften Patienten mit Diabetes eine kardiovaskuläre ADN vor (DOI: 10.1055/a-1515-9168). Und eine ADN ist nicht zwangsläufig erst eine Spätkomplikation des Diabetes: »In letzter Zeit zeichnet sich durch viele Studien ab, dass die autonome Neuropathie auch früh im Erkrankungsverlauf entstehen kann«, sagte Bönhof.
Das autonome Nervensystem steuert lebenswichtige Körperfunktionen, die unbewusst ablaufen, wie Herzschlag, Atmung oder Verdauung. Man unterscheidet zwei Komponenten: Der Sympathikus versetzt den Körper vereinfacht gesagt in Alarmbereitschaft, zum Beispiel bei Stress oder Gefahr, während der Parasympathikus für Ruhe, Erholung und Regeneration zuständig ist. Beide Systeme haben eine mehr oder weniger antagonistische Wirkung auf die Endorgane. Abzugrenzen vom autonomen Nervensystem ist das somatische Nervensystem, das Bewegungen der Skelettmuskulatur steuert und damit bewusste Handlungen ermöglicht.
Auch die Autoren eines 2024 im Fachjournal »Diabetologia« erschienenen Übersichtsartikels zur kardiovaskulären ADN (KADN) weisen auf neuere Studienergebnisse hin, die ein Auftreten der KADN bereits bei Prädiabetes belegen (DOI: 10.1007/s00125-024-06242-0). Die KADN sei eine hochprävalente mikrovaskuläre Komplikation, die zu einer Dysfunktion des kardiovaskulären autonomen Nervensystems führe. Der zugrunde liegende pathophysiologische Prozess unterscheide sich zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes: Während bei Typ-1-Diabetes vor allem Hyperglykämien für die Nervenschädigung verantwortlich seien, stünden bei Typ-2-Diabetes Insulinresistenz und Aspekte des metabolischen Syndroms im Vordergrund.
Bei einer ADN wird der längste Nerv des autonomen Nervensystems, der Nervus vagus, zuerst geschädigt. Daraus resultiert zunächst ein Übergewicht des Sympathikus gegenüber dem Parasympathikus. Infolgedessen steigt der Ruhepuls des Patienten auf bis zu 130 Schläge pro Minute an und der physiologische Blutdruckabfall in der Nacht (Dipping) fehlt. Bei fortgeschrittener KADN ist auch der Sympathikus in Mitleidenschaft gezogen. Dies macht sich dadurch bemerkbar, dass der Blutdruck beim Aufstehen nicht adäquat erhöht werden kann (orthostatische Hypotonie).
Da Hypoglykämien das ohnehin bereits geschädigte autonome Nervensystem zusätzlich belasten, ist ihre Vermeidung bei Patienten mit ADN besonders wichtig. Am Herzen wirken Hypoglykämien QT-Zeit-verlängernd und arrhythmogen. Bei der Blutzuckereinstellung gilt es daher, sowohl Hypo- als auch Hyperglykämien zu vermeiden, da beide Zustände mit Blick auf eine ADN schädlich sein können.
Wie lässt sich gegensteuern? Laut dem Übersichtsartikel steht eine Kontrolle der Symptome im Vordergrund: zum Beispiel Stützstrümpfe und/oder eine Bauchbinde bei orthostatischer Hypotonie sowie Betablocker bei hohem Ruhepuls. Hinzu kommen neben einer möglichst optimalen Blutzuckereinstellung eine Ernährungsumstellung und körperliche Bewegung.
»Sport verbessert die autonome Funktion in einem gewissen Grad«, sagte Bönhof dazu. Mindestens drei Stunden pro Woche sollten Patienten sportlich aktiv sein. Besonders bewährt habe sich ein hochintensives Intervalltraining (HIIT), aber die sportliche Betätigung müsse nicht unbedingt intensiv sein – schon etwas Bewegung ist besser als gar keine Bewegung. Um die Intensität des Trainings zu beurteilen, sei die Herzfrequenz bei Patienten mit KADN nicht der ideale Marker. »Stattdessen sollte man berücksichtigen, wie sich die Patienten dabei fühlen«, erklärte der Mediziner.
Sind bei einer ADN Nerven betroffen, die den Verdauungstrakt innervieren, kann sich das durch eine Obstipation, aber auch durch Durchfälle bis hin zur Stuhlinkontinenz äußern. Die Symptome seien unspezifisch, so Bönhof, weshalb meistens erst einmal andere Erklärungen herangezogen würden. Besonders schwierig sei es, wenn bei einem Patienten infolge einer ADN die Magenentleerung verzögert sei. Dann könne es zu schweren Unterzuckerungen kommen, wenn etwa ein Mahlzeiteninsulin gespritzt wurde, der Speisebrei aber noch im Magen verbleibt und deshalb kein adäquater Blutzuckeranstieg stattfindet. Auch ein sprunghafter Anstieg des Blutzuckers sei möglich, wenn plötzlich sehr viel Mageninhalt auf einmal in den Darm gelangt.
Ärzte sollten ihre Patienten mit Diabetes regelmäßig gezielt auf mögliche Symptome einer autonomen Neuropathie ansprechen. / © Getty Images/Jose Luis Pelaez Inc
Motilitätsfördernde Arzneimittel seien in dieser Situation keine dauerhaft tragfähige Lösung, denn sie könnten nur für kurze Zeit und off Label verordnet werden. Besser geeignet, um Blutzuckerspitzen oder -täler infolge einer Gastroparese zu verhindern, seien kontinuierliche Glucosemesssysteme gekoppelt mit Pumpen. Ein weiteres Problem, das mit ADN-bedingten Motilitätsstörungen einhergeht, lässt sich dadurch allerdings nicht beheben: Laut Bönhof kann eine bakterielle Fehlbesiedelung des Darms begünstigt werden.
Nicht zuletzt kann es infolge einer ADN auch zu Blasenentleerungsstörungen und sexueller Dysfunktion kommen. Die DDG rät in ihrer Praxisempfehlung dazu, jeden Patienten mit Diabetes regelmäßig gezielt nach Miktionsstörungen und der Zufriedenheit mit dem Sexualleben zu befragen. Nur: Wie häufig wird das in der Praxis gemacht? »Wir befürworten, dass solche Symptome häufiger aktiv nachgefragt werden«, betonte Bönhof.
Wenn mehr Patienten mit einer ADN identifiziert würden, könnten sie womöglich noch besser betreut und weitere Komplikationen dadurch verhindert werden. Das könnte die Lebensqualität der Betroffenen verbessern und die Sterblichkeit senken: »Es besteht heute kein Zweifel darüber, dass eine ADN erhebliche Konsequenzen hinsichtlich einer reduzierten Lebenserwartung, Risikoabschätzung für Endorganschäden und einer eingeschränkten Lebensqualität hat«, heißt es vonseiten der DDG. So hätten etwa Patienten mit KADN im Vergleich zu Patienten ohne KADN ein 3,5-fach erhöhtes Sterberisiko.