Neues Wirkprinzip bei Hämophilie |
Kerstin A. Gräfe |
27.02.2025 09:00 Uhr |
Der neue Antikörper Marstacimab erhöht die Thrombinbildung, indem er den extrinsischen Weg der Gerinnungskaskade verstärkt. Dadurch werden Defizite im intrinsischen Weg umgangen. / © Getty Images/Science Photo Library
Hämophilie ist eine seltene, genetisch bedingte und angeborene Blutgerinnungsstörung, die auf einem Mangel an Gerinnungsfaktoren beruht. Bei Hämophilie A fehlt der Faktor VIII (FVIII), bei Hämophilie B der Faktor IX (FIX). In der Regel werden die fehlenden Gerinnungsfaktoren durch intravenöse Infusionen mit aus Plasma gewonnenen oder rekombinanten Faktoren ersetzt, wodurch es bei den Betroffenen zu weniger Blutungen kommt.
Mit Marstacimab verfolgt man einen anderen Ansatz: Der humane monoklonale IgG1-Antikörper ist gegen die Kunitz-Domäne 2 (K2) vom Tissue Factor Pathway Inhibitor (TFPI) gerichtet. TFPI hemmt die extrinsische Gerinnungskaskade durch Blockade des aktiven Zentrums des Gerinnungsfaktors Xa. Indem Marstacimab die inhibitorische Wirkung von TFPI auf die Blutgerinnung aufhebt, ist mehr freier Faktor Xa verfügbar. Somit wird der extrinsische Weg verstärkt und die Defizite im intrinsischen Gerinnungsweg, also das Fehlen von FVIII beziehungsweise FIX, umgangen. Letztlich werden Thrombinbildung und Hämostase verstärkt.
Zugelassen ist Marstacimab (Hympavzi® 150 mg Injektionslösung im Fertigpen/Fertigspritze, Pfizer) für die Routineprophylaxe von Blutungsepisoden bei Patienten ab zwölf Jahren mit schwerer Hämophilie A oder B (FVIII beziehungsweise FIX < 1 Prozent) mit einem Körpergewicht von mindestens 35 kg, die keine Inhibitoren aufweisen.
Vor Beginn einer Marstacimab-Behandlung müssen die Patienten die Therapie mit Gerinnungsfaktorkonzentraten absetzen. Danach kann jederzeit mit der Antikörpertherapie begonnen werden.
Marstacimab wird einmal wöchentlich subkutan appliziert. Die empfohlene Dosis ist initial einmal 300 mg. Danach werden einmal pro Woche 150 mg injiziert. Bei unzureichender Blutungskontrolle kann bei Patienten mit einem Körpergewicht von mindestens 50 kg eine Erhöhung der wöchentlichen Dosis auf 300 mg in Betracht gezogen werden. Dies ist die maximale wöchentliche Dosis, die nicht überschritten werden sollte.
Das Präparat sollte 15 bis 30 Minuten vor der Injektion aus dem Kühlschrank genommen werden. Bevorzugte Injektionsstellen sind Bauch und Oberschenkel. Für die Initialdosis von 300 mg (zwei Injektionen à 150 mg) sollten zwei verschiedene Injektionsstellen gewählt werden. Nach einer entsprechenden Schulung können die Patienten die Injektion selbst vornehmen.
Wird eine Dosis versäumt, ist diese so bald wie möglich, bis zum Tag der nächsten geplanten Dosis, zu verabreichen. Anschließend ist das wöchentliche Dosierungsschema wieder aufzunehmen. Liegt die letzte Dosis mehr als 13 Tage zurück, soll die Therapie mit einer einmaligen Initialdosis von 300 mg wieder aufgenommen werden. Anschließend kann das übliche Behandlungsschema mit 150 mg einmal wöchentlich wiederaufgenommen werden.
Sechs bis zwölf Tage vor geplanten größeren chirurgischen Eingriffen wird empfohlen, Hympavzi abzusetzen und eine Therapie mit einem Gerinnungsfaktorkonzentrat einzuleiten.
Unter der Anwendung des TFPI-Hemmers kann das Thromboserisiko der Patienten steigen. Ein erhöhtes Risiko könnten zum Beispiel Patienten mit koronarer Herzerkrankung, Venen- oder Arterienthrombose haben oder solche mit einer akuten schweren Erkrankung, die mit einer erhöhten Gewebefaktor-Expression einhergeht. Dazu zählen unter anderem Patienten mit schwerer Infektion, Sepsis, Trauma, Quetschungen oder Krebserkrankung. Risikopatienten sollten auf frühe Anzeichen einer Thrombose überwacht werden.
Unter der Behandlung mit Marstacimab traten Hautreaktionen in Form von Ausschlag und Juckreiz auf. Beim Auftreten schwerer Überempfindlichkeitsreaktionen sind die Patienten anzuweisen, Hympavzi abzusetzen und sofort die Notaufnahme aufzusuchen.
Die Zulassung basiert auf der einarmigen, offenen Phase-III-Studie BASIS an 116 männlichen Erwachsenen und Jugendlichen mit schwerer Hämophilie A oder B. Die Patienten erhielten zunächst in einer sechsmonatigen Beobachtungsphase im Rahmen der üblichen Versorgung eine intravenöse Routineprophylaxe oder Bedarfsbehandlung mit FVIII oder FIX. Anschließend bekamen sie indikationsgerecht Marstacimab über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Primärer Wirksamkeitsendpunkt war der Vergleich zwischen der Marstacimab-Prophylaxe während der aktiven Behandlungsphase und der Faktor-basierten-Routineprophylaxe in der Beobachtungsphase, gemessen an der annualisierten Blutungsrate (ABR).
Die Behandlung mit Marstacimab führte im Vergleich zur Routineprophylaxe zu einer durchschnittlichen Verringerung der ABR um 35,2 Prozent. Zudem reduzierte der Antikörper die mittlere ABR im Vergleich zur Bedarfsbehandlung signifikant um 91,6 Prozent. Zudem erwies sich Marstacimab bei allen blutungsbezogenen sekundären Endpunkten als nicht unterlegen, das heißt bei der Inzidenz von spontanen Blutungen, Gelenkblutungen, Blutungen in oft betroffene Zielgelenke sowie der Gesamtblutungen.
Die häufigsten Nebenwirkungen waren Reaktionen an der Injektionsstelle, Kopfschmerzen, Bluthochdruck und Juckreiz.
In der Behandlung von Hämophilie A und B hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Zu nennen sind beispielsweise der bei Hämophilie A zugelassene bispezifische Antikörper Emicizumab sowie zwei Gentherapeutika – eines für Hämophilie A und eines für Hämophilie B. Mit Marstacimab kam nun eine weitere Sprunginnovation in den Handel. Der Antikörper weist ein neues Wirkprinzip auf: Zielstruktur ist der Tissue Factor Pathway Inhibitor (TFPI) im extrinsischen Gerinnungsweg. Marstacimab bremst die gerinnungshemmende Funktion von TFPI aus. Dadurch wird die Faktor-Xa-Bildung erhöht, selbst wenn kein Faktor VIII oder IX vorhanden ist, was zu einer erhöhten Thrombinproduktion und Gerinnungsbildung führt. Die Mängel im intrinsischen Gerinnungsweg werden so umgangen, um letztlich die Blutungsrate zu reduzieren.
Die Ergebnisse der Zulassungsstudie zeigen, dass das funktioniert, und zwar sowohl bei Hämophilie A als auch bei Hämophilie B. Folgerichtig ist das neue Medikament auch bei beiden Hämophilieformen zugelassen – auch das eine Innovation. Vorteilhaft ist ferner die einfache subkutane Applikation von Marstacimab. Bei Hämophilie B ist es sogar die erste subkutane Therapie überhaupt. Betroffene, die nun von einer intravenösen auf eine subkutane Therapie mit Pen umstellen können, werden sich vermutlich freuen.
Bei der Verordnung von Hympavzi sollten Ärzte immer ein möglicherweise gesteigertes Thromboserisiko im Hinterkopf behalten, das durch ein »Over-Rebalancing« der Hämostase denkbar ist. Bei Hämophilie-Patienten, die in klinischen Phase-I- bis -III-Studien Marstacimab erhalten haben, wurden bisher aber keine thrombotischen Ereignisse beobachtet.
Momentan ist der neue Antikörper erst ab einem Alter von zwölf Jahren zugelassen. Daten bei Jüngeren werden aber schon erhoben. Zudem kommt Marstacimab momentan nur bei Betroffenen ohne Hemmkörperbildung infrage. Das kann sich zukünftig ändern. Studiendaten bei Patienten mit Hemmkörpern werden noch in diesem Jahr erwartet. Bis Patienten mit Hemmkörpern einen TFPI-Hemmer anwenden können, wird es aber vermutlich noch schneller gehen. Denn ein zweiter Antikörper dieser Klasse, Concizumab, steht in den Startlöchern. Er ist explizit bei Hämophilie A und B mit Hemmkörperbildung zugelassen.
Spannend wird sein, ob TFPI-Antikörper noch weitere Indikationen erschließen können. Angesichts des Wirkmechanismus wäre es schließlich denkbar, dass auch Patienten mit anderen Gerinnungsstörungen als Hämophilie A und B davon profitieren könnten.
Sven Siebenand, Chefredakteur