Neues Breitbandantibiotikum verfügbar |
Kerstin A. Gräfe |
09.09.2022 07:00 Uhr |
Für Patienten mit komplizierten intraabdominellen Infektionen gibt es ein neues intravenöses Antibiotikum. Eravacyclin ist ähnlich wirksam wie Ertapenem und Meropenem. / Foto: Adobe Stock/F
Eravacyclin (Xerava® 100 mg Pulver für ein Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Paion) ist ein vollsynthetisches Antibiotikum, das bereits 2018 von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA zur Behandlung von komplizierten intraabdominellen Infektionen (cIAI) bei Erwachsenen zugelassen wurde. Seit August ist es nun im Handel.
Strukturell ist Eravacyclin ein Tigecyclin-ähnliches Tetrazyklin. Im Gegensatz zu Tigecyclin befindet sich jedoch am D-Ring des Tetrazyklin-Gerüsts an Position C-7 statt einer Dimethylaminogruppe ein Fluoratom und am C-9-Atom statt einer 2-Tertiärbutylglycylamidogruppe ein Pyrrolidinoacetamid.
Wie andere Tetrazykline hemmt Eravacyclin die bakterielle Proteinsynthese, indem es an die ribosomale 30S-Untereinheit bindet. Eine gesicherte Wirksamkeit liegt gegen folgende Erreger vor: Escherichia coli, Klebsiella pneumoniae, Staphylococcus aureus, Enterococcus faecalis, Enterococcus faecium und Viridans Streptococcus spp. Nicht wirksam ist das neuartige Antibiotikum hingegen gegen Pseudomonas aeruginosa.
Eravacyclin wird als etwa 60-minütige intravenöse Infusion verabreicht. Die empfohlene Dosis beträgt 1 mg/kg Körpergewicht alle zwölf Stunden über einen Zeitraum von vier bis 14 Tagen.
Wie bei anderen Tetrazyklinen können schwere und gelegentlich tödliche Überempfindlichkeitsreaktionen auftreten. In solchen Fällen muss die Behandlung mit Eravacyclin sofort eingestellt und entsprechende Notfallmaßnahmen eingeleitet werden. Ebenfalls Wirkstoffklassen-typisch ist das Auftreten von Clostridioides-difficile-assoziierter Diarrhö. Unter diesen Umständen sollte erwogen werden, die Eravacyclin-Behandlung zu beenden und unterstützende Maßnahmen zusammen mit einer spezifischen Therapie von Clostridioides difficile einzuleiten. Arzneimittel, die die Peristaltik hemmen, sollten nicht gegeben werden. Antibiotika-spezifisch ist zudem das Auftreten einer Pankreatitis, die in einigen Fällen unter Xerava schwerwiegend verlief. Bei Verdacht auf diese Nebenwirkung sollte die Behandlung abgebrochen werden.
Eine längere Anwendung kann ein übermäßiges Wachstum nicht sensibler Mikroorganismen einschließlich Pilzen zur Folge haben. Tritt eine solche Superinfektion auf, muss die Therapie womöglich unterbrochen und eine alternative antimikrobielle Behandlung angewendet werden.
Xerava sollte während der Zahnentwicklung (während des zweiten und dritten Trimesters der Schwangerschaft und bei Kindern unter acht Jahren) nicht angewendet werden, da es zu bleibenden gelb-grau-braunen Verfärbungen der Zähne führen kann. Prinzipiell darf Xerava während der Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, eine Behandlung mit dem Antibiotikum ist aufgrund des klinischen Zustands der Frau erforderlich. Eine Behandlung während des Stillens wird nicht empfohlen, auch das wegen der Gefahr der Zahnverfärbung beim gestillten Säugling.
Hinsichtlich Wechselwirkungen gilt es folgendes zu beachten: Bei der gleichzeitigen Anwendung mit starken CYP3A-Induktoren sollte die Eravacyclin-Dosis um etwa 50 Prozent auf 1,5 mg/kg Körpergewicht erhöht werden. Die gleichzeitige Gabe von starken CYP3A-Inhibitoren ist klinisch nicht relevant. Jedoch sollten Patienten, die zusätzlich Faktoren aufweisen, die die Exposition erhöhen können, wie schwere Leberschäden und/oder Adipositas, auf Nebenwirkungen überwacht werden. Eravacyclin ist in vitro ein Substrat für die Transporter P-gp, OATP1B1 und OATP1B3. Eine Arzneimittelwechselwirkung in vivo kann nicht ausgeschlossen werden
Die Zulassung basiert auf den randomisierten doppelblinden Phase-III-Studien IGNITE 1 und IGNITE 4. IGNITE 1 untersuchte die Wirksamkeit und Sicherheit von Eravacyclin im Vergleich zu Ertapenem. Dazu wurden 541 Patienten mit cIAI für Eravacyclin (1 mg/kg alle zwölf Stunden intravenös) oder Ertapenem (1g täglich intravenös) randomisiert. Primärer Endpunkt waren die klinischen Heilungsraten zum Zeitpunkt der Test-of-Cure-Konsultation in der mikrobiologischen Intent-to-treat-Population. Diesen erreichten in der Eravacyclin-Gruppe 86,8 Prozent der Patienten und in der Ertapenem-Gruppe 87,6 Prozent, was die Nichtunterlegenheit von Eravacyclin belegt. Beide Medikamente wurden gut vertragen.
IGNITE4 zog einen Vergleich zwischen Eravacyclin und Meropenem. 500 Patienten mit cIAI erhielten entweder Eravacyclin (1 mg/kg alle zwölf Stunden) oder Meropenem (1 g alle 8 Stunden intravenös für vier bis 14 Tage). Primärer Endpunkt war ebenfalls der Nachweis der statistischen Nichtunterlegenheit der klinischen Heilungsraten. Auch hier zeigte sich Xerava nicht unterlegen (90,8 versus 91,2 Prozent Heilungsrate).
Häufig beobachtete Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen, Reaktionen an der Injektionsstelle sowie Gefäßerkrankungen wie Phlebitis und Thrombophlebitis.
Die Xerava-Durchstechflaschen sind im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C und im Umkarton zu lagern.
Grundsätzlich sind neue Antibiotika natürlich immer gern gesehen. Allerdings ist der Innovationscharakter von Eravacyclin doch eher gering. Es weist keinen neuen Wirkmechanismus auf und ähnelt strukturell sehr dem lange bekannten Tigecyclin.
Eine vorläufige Einstufung als Schrittinnovation kann aber dennoch vorgenommen werden. Denn der Arzneistoff besitzt ein Wirkspektrum gegen verschiedene Erreger, die für komplizierte intraabdominelle Infektionen (cIAI) verantwortlich sind, auch gegen bestimmte Problemkeime. Als Reserveantibiotikum eingesetzt, kann es daher eine wichtige neue Therapieoption für Patienten mit cIAI darstellen. Immerhin hat es sich in zwei Studien bei Erwachsenen mit cIAI als vergleichbar wirksam wie alternative Antibiotika erwiesen und ist gut verträglich.
Zu beobachten ist, wie es mit dem Wirkstoff, der auch oral bioverfügbar wäre weitergeht. Denkbar wären weitere Einsatzgebiete. Studien bei komplizierten Harnwegsinfektionen verliefen allerdings enttäuschend.
Sven Siebenand, Chefredakteur