Neuer Wirkstoff bei überaktiver Blase |
Brigitte M. Gensthaler |
06.11.2024 08:00 Uhr |
Menschen mit überaktiver Blase müssen sehr häufig zur Toilette. Etwa die Hälfte der Betroffen ist in ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigt. / © Getty Images/Goldhafen
Vibegron (Obgemsa®, Pierre Fabre Pharma) ist zugelassen zur symptomatischen Therapie von Erwachsenen mit überaktiver Blase (overactive bladder, OAB). Patienten mit OAB-Syndrom leiden meist an Harndrang, erhöhter Miktionsfrequenz und Dranginkontinenz. Anders als der ähnliche, seit Langem zugelassene Wirkstoff Mirabegron darf der Neuling nicht bei Kindern (mit neurogener Detrusorhyper-Aktivität) eingesetzt werden.
Der Patient nimmt einmal täglich eine 75-mg-Filmtablette mit oder ohne Nahrung ein. Die Filmtabletten dürfen auch zerkleinert, mit einem Esslöffel (ungefähr 15 ml) weicher Nahrung, zum Beispiel Apfelmus, gemischt und unverzüglich mit einem Glas Wasser geschluckt werden. Es ist keine Dosisanpassung bei eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion nötig. Für Patienten mit schwerer Leberinsuffizienz oder Dialysepflicht liegen keine Daten vor.
Die Patienten sollten auf Anzeichen eines Harnverhalts achten und das Medikament gegebenenfalls sofort absetzen. Das Risiko für Harnverhalt ist erhöht bei Blasenausgangsobstruktion und bei gleichzeitiger Einnahme von Muscarin-Antagonisten, zum Beispiel Oxybutynin oder Tolterodin.
Vibegron ist wie Mirabegron ein selektiver β3-Adrenorezeptor-Agonist mit sehr geringer Affinität zu β1- und β2-Adrenorezeptoren. Die Aktivierung von β3-Rezeptoren im Detrusormuskel der Harnblase erhöht die Blasenkapazität, indem die glatte Detrusormuskulatur während der Blasenfüllung entspannt wird.
Die Wirksamkeit wurde in der zwölfwöchigen, doppelblinden, placebo- und aktiv kontrollierten Phase-III-Studie EMPOWUR bei rund 1500 Patienten mit überaktiver Blase, imperativem Harndrang und hoher Miktionsfrequenz mit oder ohne Dranginkontinenz untersucht. Die Patienten erhielten Vibegron 75 mg, Placebo oder Tolterodin retard 4 mg, jeweils einmal täglich.
Das neue Medikament reduzierte die Zahl an täglichen Miktionen signifikant besser als Placebo und tendenziell besser als Tolterodin (im Mittel um 1,8 Episoden versus 1,3 unter Placebo und 1,6 unter Tolterodin). Bei Patienten mit Dranginkontinenz (77 Prozent der Teilnehmer) nahm die Inkontinenzrate um zwei Episoden täglich versus 1,4 und 1,8 ab. Auch bei sekundären Endpunkten war Vibegron Placebo statistisch signifikant überlegen: Dies betraf das tägliche Miktionsvolumen sowie den Anteil der Inkontinenzpatienten, die einen mindestens 75-prozentigen Rückgang der Dranginkontinenz erlebten.
Der Effekt trat innerhalb von zwei Wochen ein und blieb über zwölf Wochen erhalten. Im Vibegron-Arm brachen 1,7 Prozent der Patienten die Therapie wegen Nebenwirkungen ab, unter Tolterodin waren es 3,3 Prozent und unter Placebo 1,1 Prozent. 1,7 Prozent der Patienten entwickelten unter Vibegron einen Bluthochdruck – genauso viele wie unter Placebo
Eine anhaltende Wirksamkeit wurde auch in der Verlängerungsstudie mit rund 500 Patienten gezeigt. Alle Patienten hatten an der zwölfwöchigen Studie teilgenommen, sodass sie insgesamt 52 Wochen überwacht worden waren. 41 Prozent der Patienten im Vibegron-Arm gegenüber 34 Prozent unter Tolterodin hatten zu Woche 52 gar keine Dranginkontinenz mehr; bei 61 versus 54 Prozent waren diese Episoden um mindestens 75 Prozent reduziert.
Die Studie URO-901-1001 mit 214 Patienten mit überaktiver Blase zeigte, dass sich Vibegron nicht signifikant oder klinisch bedeutsam auf den Blutdruck oder die Herzfrequenz auswirkt.
Die häufigsten Nebenwirkungen sind Harnwegsinfektion (6,6 Prozent), Kopfschmerzen (5,0 Prozent), Diarrhö und Übelkeit. Am häufigsten zum Absetzen der Behandlung führten Kopfschmerzen (0,5 Prozent), Obstipation, Diarrhö, Übelkeit und Ausschlag (jeweils 0,2 Prozent).
Bei Anwendung von Vibegron mit CYP3A- oder P-gp-Induktoren oder -Inhibitoren ist keine Dosisanpassung erforderlich. Dennoch empfiehlt die Fachinformation, bei der Kombination mit empfindlichen P-gp-Substraten mit enger therapeutischer Breite, zum Beispiel Dabigatran, Apixaban oder Rivaroxaban, auf mögliche Wechselwirkungen zu achten.
Die Anwendung von Vibegron in der Schwangerschaft wird nicht empfohlen. Stillende Frauen sollen es nicht einnehmen.
Vibegron ist nicht der erste β3-Adrenorezeptor-Agonist zur symptomatischen Therapie bei überaktiver Blase. Mit Mirabegron kam vor einigen Jahren bereits ein sehr ähnlicher Arzneistoff mit identischem Wirkmechanismus für diese Indikation in den Handel. Einen direkten Studienvergleich mit Mirabegron gibt es nicht, sodass der Therapiefortschritt zunächst einmal überschaubar ist.
Doch es gibt auch Gründe, die für eine höhere Einstufung als als Analogpräparat sprechen. Denn der neue Wirkstoff ist anders als Mirabegron nicht bei schwerer, nicht ausreichend eingestellter Hypertonie kontraindiziert. Auch fehlt in der Fachinformation von Vibegron der allgemeine Warnhinweis zur Hypertonie. Damit kann der neue Wirkstoff bei einer breiteren Patientengruppe zum Einsatz kommen. Hinzu kommt, dass Vibegron hinsichtlich dieses Therapiemanagements vorteilhaft sein kann, etwa bei Patienten mit Nieren- oder Leberfunktionseinschränkungen. Bei Mirabegron sind hier dagegen unter Umständen Dosismodifikationen notwendig. Auch das Wechselwirkungspotenzial von Vibegron ist geringer als jenes von Mirabegron. Insgesamt lässt sich damit die vorläufige Einstufung als Schrittinnovation rechtfertigen.
Sven Siebenand, Chefredakteur