Neuer Wirkstoff bei chronischer Anämie |
Kerstin A. Gräfe |
07.09.2020 07:00 Uhr |
Patienten mit chronischer Anämie sind auf regelmäßige Transfusionen mit Erythrozyten-Konzentraten angewiesen. Bei bestimmten Patienten führte der neue Arzneistoff Luspatercept zu einer Reduktion der Transfusionslast bis hin zur Transfusionsunabhängigkeit. / Foto: Fotolia/Gina Sanders
Luspatercept (Reblozyl® 25 mg und 75 mg Pulver zur Herstellung von Injektionslösungen, Celgene) wird angewendet zur Behandlung erwachsener Patienten mit transfusionsabhängiger Anämie aufgrund einer β-Thalassämie oder myelodysplastischen Syndromen (MDS). Bei Letzteren lautet die konkrete Indikation: bei MDS-Patienten mit Ringsideroblasten (entartete Vorläuferzellen der Erythrozyten), mit sehr niedrigem, niedrigem oder intermediärem Risiko, die auf eine Erythropoetin-basierte Therapie nicht zufriedenstellend angesprochen haben oder dafür nicht geeignet sind.
Bei der β-Thalassämie handelt es sich um eine vererbbare Blutkrankheit, die durch einen Gendefekt im β-Globin-Gen verursacht wird. Die Krankheit ist mit einer gestörten Hämoglobinbildung und ineffektiver Erythropoese verbunden, was häufig eine schwere Anämie zur Folge hat. Die Behandlungsmöglichkeiten sind begrenzt. Sie bestehen hauptsächlich aus häufigen Erythrozytenkonzentraten-(EK-)Transfusionen, die das Risiko einer sekundären Eisenüberladung bergen und schwerwiegende Komplikationen wie Organschäden verursachen können.
MDS umfassen eine heterogene Gruppe von hämatopoetischen Stammzellerkrankungen, die durch eine ineffiziente Produktion gesunder Erythrozyten, Leukozyten und/oder Thrombozyten gekennzeichnet sind. Sie führen meistens zu einer Anämie und auch zu vermehrten Infektionen oder Blutungen sowie zu einem Übergang in eine AML. Diejenigen, die eine Anämie entwickeln, sind zumeist auf regelmäßige EK-Transfusionen angewiesen.
Luspatercept ist ein sogenannter Erythrozyten-Reifungs-Aktivator. Der neue Wirkstoff ist ein Ligand für mehrere Zytokine der TGFβ-Familie, nämlich GDF-8, GDF-11 und Activin A. Diese Zytokine hemmen über den SMAD2/3-Signalweg die späte Phase der Erythropoese und damit die Ausreifung der roten Blutkörperchen. Luspatercept wirkt sozusagen als Liganden-Falle und fördert die Erythropoese.
Reblozyl wird nach Rekonstruktion subkutan in den Oberarm, Oberschenkel oder Bauch injiziert. Die empfohlene Dosis ist vom Körpergewicht abhängig und wird je nach Ansprechen angepasst. Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 1 mg pro kg Körpergewicht alle drei Wochen. Die maximale Menge des Arzneimittels pro Injektionsstelle ist 1,2 ml. Wird mehr benötigt, sollte das Gesamtvolumen gleichmäßig auf mehrere Injektionen aufgeteilt und an verschiedenen Stellen verabreicht werden. Dabei müssen für jede subkutane Injektion jeweils eine neue Spritze und Nadel verwendet werden und es sollte nicht mehr als eine Dosis aus einer Durchstechflasche verabreicht werden.
Vor jeder Luspatercept-Gabe muss der Hämoglobinspiegel (Hb) bestimmt werden. Detaillierte Angaben zur Dosisreduktion und Dosisverzögerung im Fall eines Hb-Anstiegs finden sich in der Fachinformation.
Luspatercept ist in der Schwangerschaft kontraindiziert. Frauen im gebärfähigen Alter müssen während und für mindestens drei Monate nach der Behandlung mit dem neuen Präparat eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Vor Beginn der Behandlung muss bei ihnen ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden. Aufgrund der unbekannten Nebenwirkungen von Luspatercept bei Säuglingen ist eine Entscheidung zu treffen, ob das Stillen während der Therapie und für drei Monate nach der letzten Dosis zu unterbrechen ist.
Die Zulassung basiert auf den Phase-III-Studien MEDALIST (MDS) und BELIEVE (β-Thalassämie). MEDALIST untersuchte bei 229 transfusionspflichtigen MDS-Patienten die Sicherheit und Wirksamkeit von Luspatercept in Kombination mit Best Supportive Care (BSC) im Vergleich zu Placebo plus BSC. Primärer Endpunkt war eine Transfusionsfreiheit ≥ 8 Wochen. Diese wurde in den Wochen 1 bis 24 von 37,9 Prozent der Patienten mit Luspatercept und von 13,2 Prozent der Patienten mit Placebo erreicht (p < 0,0001). Die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen waren Müdigkeit, Durchfall, Schwächegefühl, Schwindelgefühl, Rückenschmerzen und Kopfschmerzen.
Die Studie BELIEVE verglich an 336 erwachsenen β-Thalassämie-Patienten Luspatercept in Kombination mit BSC versus Placebo plus BSC. Als primärer Endpunkt war das erythroide Ansprechen definiert. Dieses war definiert als ≥ 33-prozentige Verringerung der EK-Transfusionslast während der Wochen 13 bis 24 im Vergleich zum 12-Wochen-Ausgangswert vor der Randomisierung. Unter Luspatercept erreichten mit 21,4 Prozent signifikant mehr Patienten den primären Endpunkt als unter Placebo mit 4,5 Prozent. Als häufigste Nebenwirkungen traten Kopf-, Knochen- und Gelenkschmerzen auf.
Reblozyl ist im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C zu lagern. Vor der Verabreichung muss es vorsichtig rekonstituiert werden, wobei aggressives Schütteln zu vermeiden ist. Bei Aufbewahrung in der Originalverpackung wurde die chemische und physikalische Stabilität des rekonstituierten Arzneimittels für bis zu acht Stunden bei Raumtemperatur (≤ 25 °C) oder für bis zu 24 Stunden bei 2 bis 8 °C belegt.
Luspatercept ist bei den Sprunginnovationen einzugruppieren. Es handelt sich um den ersten Vertreter einer neuen Wirkstoffklasse. Die Substanz wirkt als Erythrozyten-Reifungs-Aktivator. Der Wirkstoff fördert die Ausreifung der Erythrozyten im Spätstadium der Erythropoese. Luspatercept besitzt damit das Potenzial, die mit myelodysplastischen Syndromen (MDS) und β-Thalassämie verbundene ineffektive Erythropoese zu behandeln.
Beide Patientengruppen profitieren, wie die Zulassungsstudien zeigen. Für die Gabe von Luspatercept konnte gezeigt werden, dass sie die Anzahl notwendiger Erythrozytenkonzentrat-(EK-)Transfusionen bei MDS-Patienten signifikant reduzieren und sogar zu einer Transfusionsunabhängigkeit führen kann. Ebenso bietet der neue Wirkstoff geeigneten erwachsenen Patienten mit β-Thalassämie eine neue Behandlungsoption zur Behandlung ihrer Anämie und damit die Möglichkeit, in geringerem Maße auf regelmäßige EK-Transfusionen angewiesen zu sein.
Die geringere Transfusionslast bedeutet in beiden Patientengruppen einen Gewinn an Lebensqualität. Zudem sind häufige Transfusionen oft mit einer Eisenüberladung und sekundären Organschäden verbunden. Dank Luspatercept dürfte das Risiko hierfür geringer sein, weil eine gesenkte Transfusionslast gleichzeitig auch die mit den Transfusionen assoziierte Morbidität reduziert.
Sven Siebenand, Chefredakteur