| Christina Hohmann-Jeddi |
| 07.10.2025 17:04 Uhr |
Eine ungewöhnlich lange, elf Aminosäuren umfassende Schleife in der Struktur des Antikörpers 04_A06 wirkt wie ein zusätzlicher Greifarm, der auch schwer zugängliche, hochkonservierte Bereiche des Virusproteins gp120 erreicht. / © Adobe Stock/Corona Borealis (Symbolbild)
Das Immunsystem des Menschen hat einer Infektion mit HIV normalerweise nicht viel entgegenzusetzen. Nur einzelne Individuen können die Infektion ohne Einnahme von Arzneimitteln kontrollieren. Diese sogenannten Elite-Controller oder auch Elite-Neutralisierer besitzen breit neutralisierende Antikörper (bnAb), die sich gegen evolutionär konservierte Regionen der HIV-Oberflächenproteine richten und somit gegen eine Vielzahl von Virusvarianten wirksam sind.
Einen solchen breit neutralisierenden Antikörper hat ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Dr. Lutz Gieselmann von der Universität zu Köln entdeckt. Der Antikörper mit der Bezeichnung 04_A06 blockierte in Labortests 98,5 Prozent von mehr als 300 getesteten Virusstämmen und zeigte auch in Tierversuchen eine gute Wirksamkeit. Das berichtet das Team im Fachjournal »Nature Immunology«.
Es identifizierte den Antikörper durch die Analyse von B-Zellen von 32 Elite-Neutralisierern. Aus mehr als 800 isolierten Antikörpern stach 04_A06 hervor: Er bindet an die Region des viralen Oberflächenproteins gp120, mit der das Virus an CD4-Moleküle auf menschlichen Zellen andockt, um in sie eindringen zu können. Diese Stelle gilt als besonders empfindlich, da sie sich kaum verändern lässt, ohne dass das Virus seine Funktionsfähigkeit verliert.
In Experimenten mit humanisierten Mäusen, die über ein menschliches Immunsystem verfügen, senkte 04_A06 die Viruslast dauerhaft auf nicht mehr nachweisbare Werte. »Mit 04_A06 haben wir einen Antikörper entdeckt, der nicht nur außergewöhnlich breit wirkt, sondern auch klassische Resistenzmechanismen des Virus überwindet«, sagt Gieselmann, Assistenzarzt am Institut für Virologie der Uniklinik, in einer Mitteilung der Universität.
Strukturanalysen erklären die Stärke des Antikörpers: Eine ungewöhnlich lange, elf Aminosäuren umfassende Schleife in seiner Struktur wirkt wie ein zusätzlicher Greifarm. Sie erlaubt es 04_A06, auch schwer zugängliche, hochkonservierte Bereiche des Virusproteins gp120 zu erreichen.
Gegen aktuelle Virusvarianten aus großen internationalen Präventionsstudien zeigte 04_A06 eine ähnlich hohe Aktivität. Berechnungen zufolge könnte eine weiterentwickelte, länger haltbare Variante des Antikörpers mit dem Kürzel 04_A06LS in klinischen Anwendungen mehr als 93 Prozent Schutz bieten.
Die Autoren glauben, dass die Identifizierung des Antikörpers einen neuen Weg in der HIV-Therapie und -Prävention eröffne. Sollte sich die Wirksamkeit in klinischen Studien bestätigen, könnte 04_A06 langfristig helfen, Infektionen zu verhindern und bestehende HIV-Infektionen besser zu kontrollieren als bisherige Ansätze.
Bis zu einem potenziellen Einsatz sei es aber ein langer Weg, betont Privatdozent Dr. Christoph Spinner vom Klinikum der Technischen Universität München gegenüber dem Science Media Center Germany. »Bei der Arbeit handelt es sich um in vitro Labordaten, sodass die Wirksamkeit nicht direkt in das echte Leben übertragen werden kann. Im Grunde ist die Studie mit der Identifikation des Antikörpers die Grundlage für jetzt notwendige Studien zur Dosisfindung, Verträglichkeit und Wirksamkeit des Antikörpers. Das heißt auch, selbst wenn die ersten Ergebnisse vielversprechend sind, dass noch ein langer Weg zur potenziellen klinischen Nutzbarkeit liegt.« Hierfür müsse der Antikörper noch so modifiziert werden, »dass die Applikation in einem vertretbaren Intervall – zum Beispiel alle drei bis sechs Monate – möglich wäre«.
Um das Problem der Haltbarkeit zu umgehen, wählten Forschende aus den USA einen Ansatz, den sie im August im Fachjournal »Nature« vorstellten: Sie verimpften die Bauanleitung für einen breit neutralisierenden Antikörper in einem Adenovirus-Vektor. Dieser führte in den behandelten Tieren zu einer stabilen Produktion des bnAb 3BNC117. Auch dieser Ansatz ist bislang noch in der Präklinik, Studien mit Menschen sind in der Vorbereitung.