Nemolizumab im Handel |
Sven Siebenand |
03.04.2025 07:00 Uhr |
Sowohl bei atopischer Dermatitis als auch bei Prurigo nodularis gilt der starke Juckreiz als das belastendste Symptom. / © Getty Images/Kinga Krzeminska
Die atopische Dermatitis (AD, Neurodermitis) ist eine chronische, nicht ansteckende Hauterkrankung, die in Schüben verläuft und mit unterschiedlich stark ausgeprägten Hautveränderungen sowie häufig mit starkem Juckreiz einhergeht. In Deutschland leben circa 2,5 Millionen Betroffene.
Prurigo nodularis (PN) tritt dagegen seltener auf. Die Prävalenz in Deutschland wird auf 0,1 Prozent geschätzt. PN ist eine chronisch-entzündliche, nicht ansteckende Hauterkrankung, die durch das Auftreten von knötchenartigen Läsionen gekennzeichnet ist. Auch PN verläuft oft in Schüben und kann mit starkem Juckreiz sowie Hautveränderungen an verschiedenen Körperstellen einhergehen. Sowohl bei AD als auch bei PN gilt der starke Juckreiz als das am stärksten belastende Symptom.
Nemolizumab (Nemluvio® 30 mg Pulver und Lösungsmittel zur Herstellung einer Injektionslösung im Fertigpen, Galderma) ist bei beiden Erkrankungen zugelassen: zum einen zur Behandlung von mittelschwerer bis schwerer AD bei Patienten ab zwölf Jahren, wenn sie für eine systemische Therapie in Betracht kommen. Zum anderen darf der Wirkstoff zur Behandlung von Erwachsenen mit mittelschwerer bis schwerer PN angewendet werden, wenn diese Kandidaten für eine systemische Therapie sind.
Das Zytokin IL-31 spielt eine Schlüsselrolle bei zahlreichen chronischen Hauterkrankungen einschließlich AD und PN. Es fungiert als Vermittler zwischen dem Immun- und dem Nervensystem, wird von aktivierten Immunzellen produziert und wirkt sowohl auf Haut- als auch auf Nervenzellen, auf denen es an den IL-31-Rezeptor-alpha (IL-31Rα) bindet. So stimuliert es periphere Nervenzellen und verstärkt den Juckreiz.
Zudem führt IL-31 zu einer Beeinträchtigung der Hautbarriere (veränderte epidermale Differenzierung), wodurch die Haut trockener wird, was wiederum den Pruritus fördert. Ebenso aktiviert IL-31 Immunzellen, die weitere entzündungsfördernde Zytokine freisetzen. Last, but not least wirkt IL-31 auf Keratinozyten und Fibroblasten und steigert so Kollagenablagerung und Entzündungsreaktionen.
Wegen dieser Wirkungen wird IL-31 mitunter auch als »Juckreiz-Zytokin« bezeichnet. Nemolizumab ist der erste Antikörper, der gezielt an IL-31Rα bindet und damit spezifisch IL-31 und dessen Signalwege und die genannten Auswirkungen des Zytokins im Körper blockiert.
In den Phase-III-Studien ARCADIA 1 und 2 wurde Nemolizumab in der Indikation AD untersucht. An den Studien nahmen insgesamt mehr als 1700 Jugendliche und Erwachsene mit mittelschwerer bis schwerer AD teil. Die Studien prüften Nemolizumab, das alle vier Wochen in Kombination mit topischen Corticosteroiden oder Calcineurin-Inhibitoren subkutan verabreicht wurde, im Vergleich zu Placebo.
Ein primärer Endpunkt war der Anteil der Patienten mit einem IGA-Wert (5-Punkte-Skala zur Einschätzung des Schweregrads der Erkrankung) von 0 (erscheinungsfreier Hautzustand) oder 1 (beinahe erscheinungsfreier Hautzustand) und einer Verbesserung um mindestens zwei Stufen auf der IGA-Skala nach 16 Wochen.
Der zweite primäre Endpunkt war der Anteil von Patienten mit einer mindestens 75-prozentigen Verbesserung des Schweregrad-Scores EASI nach 16 Wochen. Zu den sekundären Endpunkten zählte eine Verbesserung des PP-NRS, eine Skala zur Bewertung der Juckreizintensität, um mindestens 4 Punkte gegenüber dem Ausgangswert nach 16 Wochen.
Die Ergebnisse: 35,6 beziehungsweise 37,7 Prozent der mit Nemolizumab behandelten Patienten erreichten den primären Endpunkt hinsichtlich des IGA-Scores. Unter Placebo war dies bei 24,6 beziehungsweise 26,0 Prozent der Patienten der Fall.
43,5 und 42,1 Prozent der mit Nemolizumab behandelten Patienten in ARCADIA 1 und 2 erreichten eine 75-prozentige Verringerung des EASI, verglichen mit 29,0 beziehungsweise 30,2 Prozent in der Placebogruppe.
Der sekundäre Endpunkt hinsichtlich der PP-NRS-Verbesserung wurde unter Nemolizumab von 42,7 und 41,0 Prozent der Patienten erreicht versus 17,8 und 18,1 Prozent unter Placebo.
Die Phase-III-Studien OLYMPIA 1 und 2 untersuchten Nemolizumab, das alle vier Wochen subkutan verabreicht wurde, im Vergleich zu Placebo bei insgesamt 560 Erwachsenen mit mittelschwerer bis schwerer PN. Auch diese Studien hatten zwei primäre Endpunkte.
Mehr als die Hälfte der mit Nemolizumab behandelten Patienten erreichte eine Juckreizreduktion um mindestens vier Punkte, gemessen anhand des PP-NRS-Scores (58,4 beziehungsweise 56,3 Prozent versus 16,7 beziehungsweise 20,9 Prozent unter Placebo). Der zweite primäre Endpunkt bewertete den IGA-Erfolg. Unter Nemolizumab erreichten deutlich mehr Patienten eine vollständige oder fast vollständige Abheilung der Hautläsionen, gemessen anhand des IGA-Scores (26,3 beziehungsweise 37,7 Prozent versus 7,3 beziehungsweise 11,0 Prozent unter Placebo).
Prurigo nodularis tritt typischerweise bei Erwachsenen mittleren bis höheren Alters auf. / © Getty Images/Md Saiful Islam Khan
Die empfohlene Dosis von Nemolizumab bei AD sind 60 mg (zwei 30-mg-Injektionen) als Anfangsdosis, gefolgt von 30 mg alle vier Wochen. Nach 16 Behandlungswochen beträgt die empfohlene Erhaltungsdosis für Patienten, die auf die Therapie angesprochen haben, 30 mg alle acht Wochen. Nemolizumab kann dabei mit oder ohne topische Corticoide angewendet werden. Topische Calcineurin-Inhibitoren können auch angewendet werden, sollten aber nur auf Problemzonen wie Gesicht, Hals, intertriginöse Bereiche und den Genitalbereich beschränkt bleiben.
PN-Patienten mit einem Körpergewicht unter 90 kg wird zu einer Anfangsdosis von 60 mg (zwei 30-mg-Injektionen) geraten, gefolgt von 30 mg alle vier Wochen. Die empfohlene Dosis für Patienten mit einem Gewicht ab 90 kg ist eine Anfangsdosis von 60 mg (zwei 30-mg-Injektionen), gefolgt von 60 mg alle vier Wochen.
Die subkutane Injektion sollte jeweils oben vorne in den Oberschenkel oder in den Bauch erfolgen, wobei ein Bereich von 5 cm um den Bauchnabel auszusparen ist. Nach einer entsprechenden Schulung können sich die Patienten das Medikament auch selbst verabreichen. Apotheker können bei der Abgabe von Nemluvio dazu raten, es nicht in Hautbereiche zu injizieren, die schmerzempfindlich, entzündet, geschwollen oder geschädigt sind. Auch in blaue Flecken, Narben oder offene Wunden darf nicht gespritzt werden. Die Injektionsstelle sollte bei jeder Gabe gewechselt werden.
Die häufigsten Nebenwirkungen bei AD und PN sind Typ-I-Überempfindlichkeitsreaktionen (1,1 Prozent) und Reaktionen an der Injektionsstelle (1,2 Prozent). Weitere Nebenwirkungen wie Kopfschmerz (7,0 Prozent) und Ekzem (3,8 Prozent) wurden bei PN berichtet. Lebendimpfstoffe sollen nicht gleichzeitig mit Nemolizumab verabreicht werden.
Einen gesonderten Warnhinweis gibt es in der Fachinformation zum Thema »Verschlechterung des Asthmas«. Obwohl Asthmapatienten mit bestehenden Risikofaktoren für eine Exazerbation von den Studien ausgeschlossen waren, wurde bei Studienteilnehmern mit PN und vorbestehendem Asthma nach Beginn der Behandlung mit Nemolizumab über eine leichte bis mittelschwere Verschlechterung des Asthmas berichtet. Dies war häufiger bei Patienten mit einem Körpergewicht von mehr als 90 kg, die alle vier Wochen 60 mg Nemolizumab erhielten, im Vergleich zu Patienten mit einem Körpergewicht unter 90 kg, die alle vier Wochen 30 mg Nemolizumab injizierten.
Aus Vorsichtsgründen soll eine Anwendung des neuen Antikörpers bei Schwangeren vermieden werden. In den ersten Tagen nach der Geburt kann es zu einer Übertragung von IgG-Antikörpern auf das Neugeborene über die Muttermilch kommen. In diesem Zeitraum kann ein Risiko für das gestillte Kind deshalb nicht ausgeschlossen werden. Danach könnte Nemolizumab während der Stillzeit angewendet werden, wenn dies aus klinischer Sicht notwendig ist.
Nemluvio wird im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C gelagert, sollte aber 30 bis 45 Minuten vor der Rekonstitution aus dem Kühlschrank genommen und bei Raumtemperatur verabreicht werden.
Mit Nemolizumab ist ein erster IL-31-Rezeptorantikörper im Handel. Der Wirkstoff ist damit ein First-in-Class-Wirkstoff und muss schon aufgrund seines Targets als Sprunginnovation bezeichnet werden. Die Bezeichnung »Juckreiz-Zytokin« für IL-31 wird dem Interleukin nur teilweise gerecht. Denn einerseits fördert es den Pruritus, andererseits aber auch Entzündungsprozesse. Tatsächlich ist für viele Betroffene mit atopischer Dermatitis oder Prurigo nodularis der Juckreiz das belastendste Symptom der Erkrankung. Insofern passt die rheinische Redensart »Jöck es schlemme wi Ping« – auf Hochdeutsch: Juckreiz ist schlimmer als Schmerz – gut.
Dass es sinnvoll ist, die IL-31-Signalgebung auszubremsen, zeigen die ARCADIA- und OLYMPIA-Studien. Der Hautzustand der Teilnehmer in der Antikörper-Gruppe verbesserte sich und der Juckreiz ließ sich dank Nemolizumab deutlich reduzieren. Hervorzuheben ist auch das sehr schnelle Ansprechen von Nemolizumab in beiden zugelassenen Anwendungsgebieten.
Auch der Antikörper Dupilumab ist unter anderem auch bei atopischer Dermatitis und Prurigo nodularis zugelassen. Er wäre damit ein geeigneter Kandidat für einen direkten Vergleich mit Nemolizumab. Dass es eine solche Studie geben wird, ist leider eher unwahrscheinlich. Daher muss man nun auf weitere Langzeitdaten warten und auf Registerdaten hoffen, um eines Tages vielleicht entscheiden zu können, welcher Antikörper bei welchem Patienten zum Einsatz kommen sollte.
Zukünftig könnten auch für Nemolizumab weitere Indikationen hinzukommen, insbesondere dermatologische. So laufen bereits Studien zum Einsatz bei Kindern und Kleinkindern mit atopischer Dermatitis.
Sven Siebenand, Chefredakteur