Nebenwirkungen bei Frauen oft stärker |
Hormonelle und biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern, aber auch soziale Faktoren tragen dazu bei, dass Frauen im Vergleich häufiger von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) betroffen sind. / Foto: Getty Images/andreswd
Pharmazeutische Forschung wurde lange Zeit von Männern an Männern und für Männer betrieben. Hormonelle und biologische Unterschiede bei Frauen und Männern können für Prozesse der Pharmakokinetik (Aufnahme, Verteilung, Metabolisierung, Ausscheidung) sowie der Pharmakodynamik jedoch durchaus relevant sein. Die Folgen können geschlechtsspezifische Unterschiede bei den gewünschten und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) sein. Laut der US-Arzneimittelbehörde FDA treten bei Frauen zum Beispiel bis zu doppelt so häufig Nebenwirkungen auf wie bei Männern (DOI: 10.1046/j.1365-2125.1998.00817.x).
Frauen können eine geringere glomeruläre Filtrationsrate aufweisen und die Magenentleerungszeit kann länger dauern als bei Männern. Zudem können der Magen-pH-Wert, das Plasmavolumen und der durchschnittliche Organblutfluss niedriger sein. Das alles kann sich auf die Wirkstoffverteilung und -elimination auswirken. Der weibliche Körper enthält meist mehr Fett, der männliche dagegen mehr Muskeln und Wasser. Fettlösliche Medikamente wie Diazepam bleiben daher bei Frauen länger im Körper als bei Männern, während wasserlösliche Medikamente schneller eliminiert werden. Frauen, die lipophile ACE-Hemmer einnehmen, leiden deshalb häufiger unter Nebenwirkungen und benötigen niedrigere Dosen, um den Blutdruck zu senken.
Die Clearance hängt stark von der geschlechtsspezifischen Expression metabolischer Enzymsysteme zusammen. Der hepatische Phase-I-Metabolismus über Cytochrom-P450-Enzyme und der Phase-II-Metabolismus können sich infolge von hormonellen Einflüssen geschlechtsspezifisch unterscheiden. Frauen metabolisieren dadurch einige Medikamente langsamer als Männer. Höhere Blutkonzentrationen und häufigere Nebenwirkungen sind die Folge. Ein Beispiel ist die Glucuronidierung von Acetylsalicylsäure (ASS), die bei Frauen etwa 30 bis 40 Prozent langsamer abläuft als bei Männern. Nehmen Frauen jedoch orale Kontrazeptiva ein, gleicht sich die Eliminationskapazität für ASS an und erreicht fast das Niveau der Männer. Ähnliche Beobachtungen gibt es unter anderem für Paracetamol und Phenprocoumon.
Systematisch untersucht haben Forschende der University of Chicago und der University of California in Berkeley, wie häufig Nebenwirkungen bei Frauen und Männern auftreten. Bei 86 untersuchten Medikamenten fanden sie bei Frauen in 96 Prozent der Fälle signifikant mehr UAW als bei Männern. Die Wissenschaftler vermuten, dass die Mittel bei Frauen oft überdosiert sind und die Anwenderinnen daher stärker von Nebenwirkungen betroffen sind (DOI: 10.1186/s13293-020-00308-5).
Die vorgeschriebenen Dosierungen basieren bei den meisten Arzneimitteln auf Studien an männlichen Probanden. Frauen wurden lange Zeit aus klinischen Prüfungen ausgeschlossen, um mögliche negative Auswirkungen auf Schwangerschaft und Fertilität zu vermeiden. Mittlerweile müssen Sponsoren in den Phasen der klinischen Prüfung beide Geschlechter berücksichtigen. Ein Ausschluss von Frauen lässt sich höchstens noch mit der Indikation begründen.
Dennoch ist es fraglich, ob allein biologische Unterschiede die höhere Rate an UAW bei Frauen erklären können. Vermutlich spielen auch soziale Faktoren eine Rolle: Frauen neigen eher dazu, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen und Medikamente einzunehmen. Ein höherer Arzneimittelkonsum führt zwangsläufig auch dazu, dass mehr Nebenwirkungen auftreten. Möglicherweise berichten Frauen auch häufiger UAW und nehmen diese wegen eines feineren Körpergefühls stärker wahr als viele Männer.
Geschlechterstereotypen und soziale Normen könnten zudem relevant sein, wenn es darum geht, wann ein Umstand als UAW empfunden wird. Frauen erleben möglicherweise Veränderungen wie eine leichte Gewichtszunahme stärker als negativ, während Männer ein paar Kilos mehr vielleicht gar nicht weiter bewerten (DOI: 10.1016/j.socscimed.2023.116385).
Geschlechtsspezifische Unterschiede bedeuten dabei nicht immer einen Nachteil für Frauen. Eine unterschiedliche pharmakologische Wirksamkeit kann sich je nach Parameter mal für das eine und mal für das andere Geschlecht günstig oder ungünstig auswirken. So zeigen etwa Sulfonylharnstoffe die stärkste blutzuckersenkende Wirkung bei nicht adipösen Männern, während Glitazone bei adipösen Frauen effektiver sind. Adipöse Frauen haben ein höheres Risiko für Gewichtszunahme und Ödembildung, wenn sie Glitazone anwenden, und bei Männern wurde unter Glitazonen ein leicht erhöhtes Risiko für Blasenkrebs festgestellt.
Das weibliche Geschlecht kann auch ein Vorteil sein. So zeigte eine Studie, dass Frauen unter einer Therapie mit dem GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) Dulaglutid eine stärkere Gewichtsreduktion erzielten als Männer. GLP-1-RA führen allerdings bei Frauen möglicherweise häufiger zu gastrointestinalen Störungen als bei Männern. Metformin führte dagegen in einer Studie bei männlichen Patienten mit Typ-2-Diabetes zu einer effektiveren Senkung des HbA1c-Werts als bei weiblichen, während die Reduktion des Körpergewichts bei Frauen stärker ausgeprägt war.
Genderabhängige Unterschiede in der Pharmakokinetik und -dynamik gibt es also einige, doch nicht für jedes Arzneimittel lässt sich daraus auch eine klinische Relevanz ableiten. Möglicherweise beeinflussen das Körpergewicht und der Anteil an Muskel- oder Fettgewebe sowie weitere Faktoren wie etwa der Raucherstatus und eine Nieren- oder Leberinsuffizienz die Medikamentenwirkung stärker als das Geschlecht. In Einzelfällen kann es dennoch wichtig sein, geschlechtsspezifische Dosierungen vorzuschreiben.
Ein Beispiel hierfür ist Zolpidem: Frauen, die Zolpidem über das Cytochrom-P450-System der Leber langsamer abbauen, sind stärker von Nebenwirkungen betroffen und es können am Morgen nach der Einnahme noch relevante Blutspiegel bestehen. In Statistiken zeigt sich, dass Patientinnen unter Zolpidem vermehrt Autounfälle in den Morgenstunden verursachten. Daraufhin halbierte die FDA die bislang empfohlene Dosis für Frauen.
Für Minoxidil gegen Haarausfall, Follitropin zur Behandlung von Fruchtbarkeitsstörungen oder Metreleptin gegen Lipodystrophien gibt es ebenfalls geschlechtsspezifische Dosierungen. Manche Medikamente sind sogar nur für ein Geschlecht zugelassen. Das ist zum Beispiel bei dem Osteoporose-Mittel Romosozumab der Fall, das für postmenopausale Frauen indiziert ist.
In den meisten Fällen fehlen jedoch in den Produktinformationstexten genderspezifische Dosierungen. Dann kann es naheliegend erscheinen, Dosierungen an das Gewicht von Frauen anzupassen. Dies schützt aber nicht unbedingt vor stärkeren Nebenwirkungen, wenn zum Beispiel eine unterschiedliche Enzymaktivität für die bei Frauen höheren Arzneistoffspiegel verantwortlich ist. Alternativ können Ärzte Frauen zunächst niedrigere Dosen verschreiben und diese dann schrittweise steigern, bis das Medikament wie beabsichtigt wirkt, ohne übermäßige Nebenwirkungen zu verursachen.