Nachteile für Opfer des Bottroper Zytoskandals belegt |
Annette Rößler |
14.04.2021 12:00 Uhr |
Krebspatienten müssen darauf vertrauen, dass die individuell hergestellten Infusionen den korrekten Wirkstoffgehalt haben. In Bottrop hat ein Apotheker jahrelang dieses Vertrauen in verbrecherischer Weise missbraucht. / Foto: Shutterstock/napocska
Mittlerweile ist es höchstrichterlich erwiesen, dass der Apotheker Peter S. in seiner Apotheke in Bottrop jahrelang individuell zubereitete Krebsmedikamente bewusst unterdosierte, um sich selbst zu bereichern. Juristisch ist der Fall mit der Bestätigung des Urteils durch den Bundesgerichtshof abgeschlossen; der Mann sitzt für zwölf Jahre hinter Gittern und hat lebenslanges Berufsverbot. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen viel drängender ist jedoch die Frage nach den medizinischen Konsequenzen der Fehlbehandlung: Hat ihre Krebserkrankung womöglich einen ungünstigeren Verlauf genommen, als es bei korrekter Behandlung zu erwarten gewesen wäre?
Um dies zu klären, hatte Karl-Josef Laumann (CDU), der Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, beim Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) eine Studie in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse belegen nun einige Auffälligkeiten bei den betroffenen Patienten, können aber noch keine Aussage über den Langzeitverlauf machen, da die Nachbeobachtungszeit zu kurz ist.
Den Umfang des entstandenen Schadens zu beurteilen, war sehr schwierig, da unklar ist, wie lange, wie oft und in welchem Ausmaß der Apotheker bei den Zubereitungen unterdosierte, schreibt das Autorenteam um Professor Dr. Ulrike Haug vom BIPS. Am Tag der Verhaftung von Peter S. wurden 117 Zubereitungen sichergestellt, von denen 51 den ärztlich verordneten Wirkstoffgehalt aufwiesen. Die restlichen 66 Zubereitungen (56 Prozent) enthielten nur 10 bis 20 Prozent des Wirkstoffgehalts, keinen Wirkstoff oder einen falschen Wirkstoff. Hieraus leiten die Autoren ab, dass wahrscheinlich auch zuvor schon knapp die Hälfte der von dem Apotheker hergestellten Krebstherapeutika richtig dosiert waren und dass es Zufall war, wie oft ein einzelner Patient im Laufe seiner Therapie ein richtig dosiertes oder ein unterdosiertes Medikament erhielt.
Bei ihrer Analyse berücksichtigen die Autoren Patienten, die zwischen 2012 und 2016 – dem Zeitraum, in dem der Betrug belegt ist – von dem Apotheker versorgt wurden. Im Design einer gematchten Kohortenstudie vergleichen sie sie mit jeweils bis zu vier möglichst ähnlichen Patienten, die Krebstherapeutika aus einer anderen Apotheke erhielten. Insgesamt umfasste dieser Vergleich 1234 Patientinnen mit Brustkrebs (255 von der Bottroper Apotheke versorgt, 979 Kontrollen) und 730 Patienten mit nicht soliden Tumoren (149 Bottrop, 581 Kontrollen).
Insgesamt erhielten die von dem Bottroper Apotheker versorgten Patienten im Median etwa ein Drittel mehr Infusionen als die Kontrollen. Das lässt sich aus Sicht der Autoren möglicherweise damit erklären, dass die Therapie bei ihnen häufiger nicht den gewünschten Effekt zeigte und deshalb länger fortgesetzt werden musste. Andererseits könnte sich durch die häufigeren Behandlungen im Einzelfall die Chance erhöht haben, dass der Patient eine richtig dosierte Zubereitung bekam.
Brustkrebs-Rezidive traten in beiden Gruppen bei etwa einem Viertel der Patientinnen auf (26 Prozent), hier bestand also kein Unterschied. Allerdings war die Zeit bis zum Auftreten eines Rezidivs bei den von dem Bottroper Apotheker versorgten Patientinnen mit median 565 Tagen deutlich kürzer als bei den Kontrollen mit 638 Tagen. Hieraus könnten sich laut den Autoren mittel- bis langfristig auch Unterschiede beim Überleben ergeben, die jedoch in der Studie noch nicht erfasst werden konnten.
Keinen Unterschied beim Endpunkt Überleben gab es bei den Patienten mit nicht soliden Tumoren: Sowohl in der Bottrop-Gruppe als auch in der Kontrollgruppe starb etwa ein Drittel der Patienten während des Beobachtungszeitraums. Auch die Zeit bis zum Versterben war in beiden Gruppen ähnlich.
Die Autoren betonen, dass anhand der Studie keine Aussagen über Einzelfälle getroffen werden könne. Es lässt sich somit nicht sagen, ob ein bestimmter Patient aufgrund der unterdosierten Krebstherapie früher verstarb oder früher ein Rezidiv erlitt, als es bei korrekter Dosierung der Fall gewesen wäre. Die Studie gibt jedoch einen deutlichen Hinweis darauf, dass Unterschiede vorhanden sind, die sich höchstwahrscheinlich auch negativ ausgewirkt haben. Oder wie es Studienleiterin Haug bei der Vorstellung der Ergebnisse laut Nachrichtenagentur dpa formulierte: »Es kann daraus nicht geschlossen werden, dass die unterdosierten Zubereitungen aus der Apotheke Bottrop bei keinem der betroffenen Patienten zu einem ungünstigeren Krankheitsverlauf geführt haben.«
Jeder Mensch, der die beängstigende Diagnose Krebs erhält, wünscht sich, dass er die bestmögliche Therapie erhält. Nimmt die Erkrankung einen ungünstigen Verlauf, stellt sich automatisch die Frage, was man hätte besser machen können. Für die Opfer des Bottroper Betrügers und ihre Angehörigen wird daher trotz der jetzt vorgestellten Ergebnisse eine große, sehr belastende Unsicherheit bleiben.