Muscarinrezeptor-Antagonist fördert Remyelinisierung |
Theo Dingermann |
07.08.2024 13:00 Uhr |
Bei Multipler Sklerose werden die schützenden Myelinschichten um die Nervenfortsätze (Axone) durch Autoimmunprozesse angegriffen und abgebaut. / Foto: Getty Images/Stocktrek Images
Multiple Sklerose (MS) ist eine degenerative Erkrankung, deren Verlauf sich durch moderne Immuntherapeutika zwischenzeitlich oft gut verlangsamen lässt. Eine Heilung oder gar eine Reparatur der durch Autoimmunprozesse verursachten Defekte an den Nervenfasern sind derzeit jedoch nicht möglich.
Auch aus diesem Grund lassen Arbeiten von Forschenden der UC San Francisco und des Pharmaunternehmens Contineum Therapeutics in San Diego aufhorchen, die andeuten, dass sich die durch das eigene Immunsystem zerstörten Myelinscheiden der Nervenfasern eventuell reparieren lassen. Dies jedenfalls beschreibt die Gruppe um Dr. Michael M. Poon von Contineum Therapeutics in einer Publikation, die kürzlich im Fachjournal »PNAS« erschien.
Der neue Wirkstoff mit der Bezeichnung PIPE-307 hemmt spezifisch den zu den G-Protein-gekoppelten Rezeptoren gehörenden Muscarinrezeptor M1 (M1R) auf bestimmten Zellen im Gehirn. Durch umfangreiche Vorarbeiten hatten die Forschenden gezeigt, dass M1R als negativer Regulator die Differenzierung von Oligodendrozyten-Vorläuferzellen (OPC) und die Myelinisierung hemmt. Wird der Rezeptor blockiert, treten die Oligodendrozyten in Aktion und wickeln sich um die Axone, um eine neue Myelinscheide zu bilden.
PIPE-307 ist ein oral bioverfügbarer, hirngängiger, niedermolekularer, spezifischer Antagonist von M1R. Durch In-vitro-Studien konnten die Forschenden zeigen, dass PIPE-307 die Differenzierung von OPC in Myelin-exprimierende Oligodendrozyten fördert. Dies bestätigte sich auch in einem Mausmodell der experimentellen Autoimmun-Enzephalomyelitis, einer Modellerkrankung für MS, bei dem PIPE-307 durch Hemmung des M1R die Remyelinisierung aktivierte.
Zudem verbesserten sich in diesem Modell auch die klinischen Behinderungswerte, was vermuten lässt, dass sich durch die Behandlung funktionelle und anatomische Verbesserungen im entmarkten Gewebe einstellen. Genauere Analysen bestätigten, dass M1R-exprimierende OPC in aktiven MS-Läsionen besonders reichlich vorhanden waren. Das zeigt, wie sinnvoll eine M1R-Hemmung ist, um die Differenzierung der OPC und die Remyelinisierung zu starten.
PIPE-307 bindet auch beim Menschen selektiv an M1R im Gehirn und weist ein günstiges pharmakokinetisches Profil auf. Nach Verabreichung des Wirkstoffs blockiert PIPE-307 für eine beträchtliche Dauer die hirnständigen M1-Rezeptoren, was gut mit den beobachteten Remyelinisierungseffekten korreliert. Selbst in älteren menschlichen Geweben führte die Inkubation mit PIPE-307 zur Ansammlung reifer Oligodendrozyten, was eine potenzielle Wirksamkeit in allen Altersgruppen andeutet.
Im Tierexperiment verursacht PIPE-307 keine nennenswerten kognitiven Nebenwirkungen, die typischerweise bei nicht selektiven Antimuskarinika auftreten können. Daraus lässt sich ableiten, dass PIPE-307 ein möglicher Therapieansatz für MS-Patienten sein kann, wenn die Substanz in Verbindung mit bestehenden immunmodulatorischen Therapien eingesetzt wird, um sowohl Neuronen zu schützen als auch die kognitiven Funktionen zu verbessern.
Im Jahr 2021 erwies sich PIPE-307 in einer klinischen Studie der Phase I als sicher. Derzeit wird der Wirkstoff in einer Phase-II-Studie an MS-Patienten getestet.