Münch bedauert »Verfall der Diskussionskultur« |
Annette Rößler |
23.11.2023 14:00 Uhr |
Dr. Jens-Andreas Münch, der Präsident der Apothekerkammer Sachsen-Anhalt, wünscht sich eine bessere Diskussionskultur in Deutschland – auch zwischen dem Bundesgesundheitsminister und den Apothekern. / Foto: AKSA (Archivbild)
»Die Zeit ist aus den Fugen.« Mit diesem Zitat aus Shakespeares Hamlet begann der Präsident der Apothekerkammer Sachsen-Anhalt seine Rede bei der Kammerversammlung in Magdeburg. Was im Großen für die Weltpolitik gelte, treffe auch auf den überschaubareren Bereich der Gesundheitspolitik zu. Nachdem im Jahr 2022 insgesamt 393 Apotheken in Deutschland schließen mussten, seien es bis Ende September 2023 bereits 335 gewesen. Da zum Ende des Jahres weitere Schließungen zu erwarten seien, müsse man für das laufende Jahr »einen neuen Rekordwert« befürchten.
»Lieferengpässe machen uns nach wie vor das Leben schwer«, fuhr Münch fort. Diese machten nicht nur viel zusätzliche Arbeit, sie bereiteten auch persönlichen Frust. Sein eigener wurde deutlich, als Münch auf das Beispiel der GLP-1-Analoga einging. Hier gingen kranke Menschen immer öfter leer aus, weil die Mittel als Wunderwaffe gegen das Lifestyle-Problem Übergewicht gehypt würden und die Hersteller mit dem Bedarf nicht mehr schritthalten könnten. Exemplarisch für die Hauptursachen der Engpässe bei anderen Wirkstoffen sei dies allerdings nicht. Diese lägen in einer über Jahrzehnte überdrehten Preisspirale und gestörten globalen Lieferketten, stellte der Apotheker klar.
Anders als Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD) hält Münch das Arzneimittel-Lieferengpass-Bekämpfungs- und Versorgungsverbesserungs-Gesetz (ALBVVG) nicht für ausreichend, um gegen diese Missstände vorzugehen. Das ALBVVG greife viel zu kurz, denn es berücksichtige vorzugsweise Fiebermittel für Kinder und Antibiotika. »Die Lieferengpässe betreffen aber auch patentgeschützte und OTC-Arzneimittel.«
Der Aufwand für die Patientenversorgung steige also in den Apotheken. Gleichzeitig hätten sie immer größere Schwierigkeiten, Mitarbeiter zu finden. Die Personalknappheit schlage sich unter anderem auch darin nieder, dass die pharmazeutischen Dienstleistungen (pDL) nicht in dem Umfang angeboten werden könnten, wie das wünschenswert wäre. »Ich finde pDL großartig und werbe auch dafür, sie noch weiter voranzutreiben. Doch welches Personal soll diese Leistungen umsetzen?«
Die Antwort auf diese Frage bleibe Lauterbach schuldig, wenn er die pDL oder auch Impfen und andere Präventionsleistungen als Ausgleich für die verweigerte Honorarerhöhung einkalkuliere. Das Beispiel zeige, wie der Minister vermeintlich einfache Lösungen aus dem Hut zaubere – laut Münch »eine so untauglich wie die nächste« – während er das Grundproblem, eine über viele Jahre latente Unterfinanzierung, nicht lösen wolle. »Für ihn sind wir immer noch die jammernden Gutverdiener, bei denen es noch diverse Effizienzreserven zu heben gibt«, konstatierte Münch. Dem Zeitgeist folgend rede der Minister nicht so gerne mit den Apothekern, sondern lieber über sie.
Dagegen würden die Sorgen der Apotheker auf Länderebene durchaus gesehen. Das helfe jedoch nichts, wenn Gesetze immer häufiger so ausgestaltet würden, dass sie nicht Bundesrat-zustimmungspflichtig sind. Juristisch sei das sicherlich nicht zu beanstanden; demokratisch bedenklich sei es aber allemal, wenn Gesetze auf diese Weise gegen die ernstzunehmenden Bedenken der Länder durchgesetzt würden.
»Hamlet sah die Welt um 1600 aus den Fugen. Sie sieht heute etwas anders aus, aber sie hält noch«, kam Münch schließlich auf sein Eingangszitat zurück. Trotz aller Widrigkeiten habe er sich seine Zuversicht bewahrt. »Es sind inzwischen zu viele, die der Meinung sind, dass es so nicht weitergehen kann«, sagte der Präsident.
Dr. Jens-Andreas Münch, Präsident der Apothekerkammer Sachsen-Anhalt, mit der Gastrednerin, ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening. / Foto: AKSA/Pohl
Optimistisch stimme sie vor allem die große Geschlossenheit des Berufsstands und auch der Schulterschluss mit den anderen Heilberuflern, schloss Gabriele Regina Overwiening an. Ein funktionierendes Gesundheitssystem sei Garant des sozialen Friedens, so die ABDA-Präsidentin in ihrer Gastrede. Hierzu trügen die Apotheken mit täglich 3,5 bis 4 Millionen Kundenkontakten entscheidend bei. »Zurzeit geht das aber nur selbstausbeuterisch. Wir sind an einem Kipppunkt und merken: Es geht nicht mehr.« Das müsse man der Politik klarmachen.
Problematisch in der Kommunikation mit dem Gesundheitsminister sei, dass bei diesem Aussagen und Handlungen nicht übereinstimmten. Er lege den Fokus nicht auf die Apotheken. »Die sind für ihn wie Strom aus der Steckdose: Man hat sie einfach.« Lauterbach lege Wert auf Krankenhäuser und medizinische Forschung. »Für die Niederungen der apothekerlichen Gesundheitsversorgung der Menschen ist er wenig zugänglich«, stellte Overwiening fest.
Um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, hätten die Apotheker sich zu einer Eskalationsstrategie entschieden, deren »erster großer dramatischer Höhepunkt« der bundesweite Protesttag am 14. Juni gewesen sei. Die Beteiligung daran sei mit nahezu 90 Prozent riesig gewesen und dafür sei sie sehr dankbar, so die ABDA-Präsidentin. Zurzeit laufen weitere dezentrale Proteste, die wiederum sehr erfolgreich seien. »Dabei haben wir die Menschen auf unserer Seite. Damit hat die Politik nicht gerechnet.«
Dessen ungeachtet habe Lauterbach gerade erst wieder verlautbaren lassen, dass er die Forderungen der Apotheker für unverhältnismäßig halte und dass er das System »nicht mit Geld zukleistern« wolle. »Das ist perfide, wenn man weiß, dass wir beim Fixum auf dem Niveau von vor 20 Jahren sind. Alle unsere Gemeinwohlaufgaben sind unterfinanziert«, sagte Overwiening. Anders als beim Minister fänden die Apotheker bei den Parlamentariern mit ihren berechtigten Anliegen durchaus ab und zu Gehör. »Immerhin haben wir die Nullretaxation ins ALBVVG reinbekommen, wenn auch nicht genau so, wie wir es uns gewünscht haben«, erinnerte Overwiening.
Um politisch etwas zu erreichen, brauche man oft einen langen Atem. Dabei könne man nicht pausenlos Vollgas geben. »Das geht in Wellen«, sagte die ABDA-Präsidentin wohl mit Blick auf Kritiker aus den eigenen Reihen, die eine noch härtere Gangart fordern. Es werde aber definitiv eine nächste Eskalationsstufe geben. Die Apotheker hätten viele Verbündete, etwa unter den Ministerpräsidenten. Alle Apotheker sollten nach Möglichkeit ihre lokalen Kontakte nutzen, um mit Politikern in Kontakt zu kommen und ihre prekäre Situation zu schildern.
Im politischen Geschäft passiere es oft, dass man scheinbar aussichtslos gegen Wände laufe. Dann müsse man einen Umweg suchen – und man werde feststellen: Es gibt doch einen Weg. »Lassen Sie uns zusammen beharrlich bleiben«, schloss Overwiening.