Moderne Kunst trifft auf biblische Plagen |
Angela Kalisch |
23.09.2024 07:00 Uhr |
Detail aus »Zweite Plage: Die Frösche kommen über das Land Ägypten« von Jan Luyken (1708), Radierung. / © © Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln; Stanislaw Rusch
Man muss zur Lupe greifen, um den Detailreichtum der Wimmelbilder zu erfassen, die am Anfang der aktuellen Ausstellung im Kunstforum Ingelheim stehen. Die zehn Radierungen des Niederländers Jan Luyken aus dem Jahr 1708 illustrieren erzählerisch die biblischen Plagen aus dem Alten Testament. Vor einer orientalisch anmutenden Kulisse spielen sich die Szenen der einzelnen Blätter ab: Die Menschen haben ihre Häuser verlassen und richten verzweifelte Blicke in den Himmel, sie versuchen die Plagen abzuwehren, beklagen ihre Toten.
Die Ereignisse sind dramatisch: Wasser verwandelt sich in Blut, Frösche und Insekten fallen in Schwärmen über das Land her, Tiere und Menschen erkranken und sterben in großer Zahl. Um das Volk Israel aus der Sklaverei zu befreien, brachte Gott laut biblischer Überlieferung innerhalb kurzer Zeit verheerende Katastrophen über Ägypten. Die zehn Plagen aus dem 2. Buch Mose (Exodus) sind von zentraler Bedeutung in allen drei großen Weltreligionen. Doch wie ist diese alttestamentarische Erzählung aus heutiger Sicht zu interpretieren und welche Relevanz hat sie für die Gegenwart?
Zehn Kunstschaffende waren eingeladen, sich auf ihre ganz persönliche Weise mit dem Werk Luykens auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse folgen nicht der simplen Formel 10 Künstler = 10 Plagen, sondern zeigen eine enorme Bandbreite der Beschäftigung mit der Materie. Einige der so entstandenen Werke analysieren eher den formalen Aufbau der Bilder Luykens, ihre Interpretationen treten in einen spannenden grafischen Dialog mit der Vorlage. Andere Künstlerinnen und Künstler setzen sich inhaltlich mit dem Thema der Plagen auseinander, indem sie versuchen, ihrer Bedeutung auf den Grund zu gehen und die Erzählung in den Kontext der heutigen Zeit zu stellen.
Dabei lohnt sich ein Blick auf die bisherige Rezeptionsgeschichte. Aus theologischer Sicht symbolisieren die biblischen Plagen Gottes Macht und Gerechtigkeit gegen Unterdrückung und gelten auch als spirituelle Prüfung und Warnung vor moralischem Verfall. Wissenschaftliche Erklärungsansätze suchen nach natürlichen Ursachen, die den Katastrophen zugrunde liegen und eine Kettenreaktion ausgelöst haben könnten.
So wird etwa vermutet, dass ein Vulkanausbruch mit seinem Ascheregen sowohl den Himmel verfinstert und Unwetter ausgelöst als auch das Wasser des Nil verfärbt und vergiftet haben könnte. In der Folge starben die Fische, und Amphibien flohen an Land, wo sie verendeten. Insekten konnten sich ohne ihre natürlichen Feinde ungehindert vermehren und infizierten die Menschen und das Nutzvieh mit todbringenden Krankheiten. Ein anderer Ansatz sieht eine toxische Alge als Auslöser der Rotfärbung und Verseuchung des Wassers – mit den entsprechenden tödlichen Folgen für Mensch und Tier.
Historisch belegen lassen sich diese Theorien nicht. Doch die Parallelen zu den aktuellen Krisen sind frappierend. Spätestens seit der Coronaviruspandemie und den spürbaren Folgen des Klimawandels zeigt sich, dass die Geschichten, die unsere Vorfahren bewegten und ängstigten, in keinster Weise Staub angesetzt haben. Auch in der Kunst spielen die biblischen Plagen immer wieder eine Rolle, vor allem in der Malerei, aber auch im Film, wie beispielsweise in »Magnolia« oder der Serie »Fargo«.
Die Illustrationen Jan Luykens waren bisher noch nicht Gegenstand zeitgenössischer Arbeiten, den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Ingelheimer Herbstausstellung waren sie vor dem Projekt kaum bekannt. Während des Schaffensprozesses entwickelte sich jedoch bei allen Beteiligten eine starke Faszination für das Thema, so Katharina Henkel, Kuratorin der Ausstellung. Das offen gehaltene Konzept ließ dabei genügend Raum für eine sehr individuelle Herangehensweise.
»Wir sind experimentierfreudig«: Kuratorin Katharina Henkel / © PZ/Angela Kalisch
Wenn auch mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen, nehmen doch mehrere Kunstwerke Bezug auf die offensichtlichen Krisen unserer Zeit. Vor allem die Coronaviruspandemie, die noch immer nicht vollständig überwunden ist, hat viele Menschen in einen Zustand der Hilflosigkeit versetzt. Weitere Infektionskrankheiten, durch Insekten übertragen, breiten sich infolge der Klimaerwärmung immer weiter aus. Sławomir Elsner beispielsweise verarbeitet in farbenfrohen ästhetischen Bildern, die jeweils Störfaktoren enthalten, die Folgen von Klimawandel und Umweltverschmutzung. Auf das vergiftete Wasser spielt Bettina Munk mit einer Videoinstallation und einer Reihe von Illustrationen in Stempeltechnik an. Einige Künstlerinnen und Künstler verarbeiten moderne Plagen, wie etwa die soziale Ungleichheit oder sexualisierte Gewalt, die keinen direkten Bezug zu den historischen Vorbildern haben.
Auch die religiöse Ebene wird in einigen Bildern thematisiert, so zum Beispiel von Marcel van Eeden, der nächtliche Szenen Den Haags auf Leintuch gebracht hat. Er sieht in den biblischen Plagen die Umkehr der Schöpfungsgeschichte: Die aus dem Chaos entstandene Ordnung wird zerstört und wieder ins Chaos gestürzt. Auch Brigitte Waldach nimmt Bezug zur Genesis mit einem Diptychon aus Licht, das am Anfang der Schöpfung stand, und der Finsternis, in die die Welt wieder zu versinken droht. An die Stelle der Ohnmacht gegenüber einer höheren Gewalt mag die Erkenntnis treten, dass viele der heutigen Plagen das Ergebnis menschlichen Handelns sind.
Die »Internationalen Tage« sind ein Kulturengagement von Boehringer Ingelheim. Sie finden seit 1959 jährlich im Frühjahr statt; in diesem Jahr erstmals mit einer zweiten Ausstellung im Herbst.
Die aktuelle Ausstellung »Frösche, Feuer, Finsternis. Aktuelle zeichnerische Positionen zu Jan Luyken« ist noch bis zum 10. November 2024 zu sehen im Kunstforum Ingelheim – Altes Rathaus, François-Lachenal-Platz 1, Ingelheim am Rhein
Öffnungszeiten: Di.–Fr. 11–18.30 Uhr, Sa., So. und an Feiertagen 11–18 Uhr
Weitere Informationen: www.internationale-tage.de