Mitochondriale DNA als Pflaster des Genoms |
Annette Rößler |
20.10.2022 12:30 Uhr |
Als einzige Zellorganellen sind Mitochondrien von einer Doppelmembran umgeben und haben eine eigene DNA. Diese und weitere Besonderheiten lassen vermuten, dass sie einmal Bakterien waren, die in die Zelle integriert wurden. / Foto: Fotolia/Wire_man
Mitochondrien sind Zellorganellen, in denen die Atmungskette und somit die Energiegewinnung stattfindet. Deshalb werden sie häufig auch als Kraftwerke der Zelle bezeichnet. Gemäß der Endosymbiontentheorie haben sich Mitochondrien vor Jahrmillionen aus aeroben Bakterien entwickelt, die von eukaryotischen Zellen aufgenommen wurden. Hierfür spricht unter anderem, dass Mitochondrien von einer Doppelmembran umschlossen sind und eine eigene DNA enthalten.
Im Laufe der gemeinsamen Evolution wurden Gene der Mitochondrien in den Zellkern verlagert, sodass mtDNA heute nicht mehr alle Gene enthält, die für ein Überleben des Mitochondriums außerhalb der Zelle notwendig wären. Beispielsweise sind die Proteine, aus denen ein Mitochondrium besteht, überwiegend in Zellkern-DNA kodiert und werden im Zytosol synthetisiert.
Bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass der Transfer von mitochondrialen Genen ins Kern-Genom heute nicht mehr stattfindet. »Man hat gedacht, dass all das vor langer Zeit passiert ist, größtenteils bevor wir uns als Spezies entwickelt haben. Aber wir haben entdeckt, dass das nicht stimmt«, sagt Professor Dr. Patrick Chinnery von der University of Cambridge, Seniorautor der aktuellen Publikation im Fachjournal »Nature«.
Chinnery forscht mit seiner Arbeitsgruppe schon länger zur mtDNA. Diese hat die Besonderheit, dass sie wie auch die Mitochondrien selbst stets von der Mutter an die Nachkommen weitergegeben wird und nicht vom Vater. mtDNA mutiert zudem schneller als Kern-DNA, weshalb auch Paläogenetiker wie der jetzt mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnete Professor Dr. Svante Pääbo mtDNA nutzen, um die Stammesgeschichte des Menschen nachzuvollziehen.
Über die ausschließlich maternale Vererbung der mtDNA wird allerdings seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. 2018 stellte ein internationales Forscherteam im Fachjournal »PNAS« die These auf, dass mtDNA zu einem geringen Anteil auch paternal vererbt werde. Die Wissenschaftler hatten bei mehreren nicht verwandten Individuen hohe Anteile einer sogenannten Heteroplasmie festgestellt, also unterschiedliche mtDNA in einer einzigen Zelle. Dieser Befund sei nur dadurch zu erklären, das die mtDNA anders als angenommen teilweise auch vom Vater stamme, hatten sie gefolgert.
Dem hatte Chinnery mit seinem Team allerdings zwei Jahre später im Fachjournal »Nature Communications« widersprochen. Seine Gruppe hatte in den genetischen Daten von 11.000 Familien gezielt nach Anzeichen einer paternalen Vererbung von mtDNA gesucht, dabei aber etwas anderes gefunden: Einige Kinder wiesen mtDNA-Abschnitte in der Kern-DNA auf, die bei keinem ihrer beiden Elternteile vorhanden waren. Chinnery und Kollegen nahmen daher an, dass die Schlussfolgerung der Autoren der PNAS-Publikation falsch gewesen war: Was diese Forscher gefunden hatten, sei keine vom Vater vererbte mtDNA gewesen, sondern eben diese mtDNA-Einschübe in der Kern-DNA.
Mit ihrer jüngsten Arbeit, für die sie 66.000 Genome ausgewertet hatten, untermauern die Forscher um Chinnery diese These und liefern gleichzeitig einen Hinweis darauf, wie oft mtDNA in die Kern-DNA aufgenommen wird. Das passiere gar nicht mal so selten, nämlich bei circa einem von 4000 Neugeborenen. Die mtDNA-Einschübe im Erbgut würden an die Nachkommen weitergegeben, sodass sie im Lauf der Zeit akkumulierten: Die meisten Menschen wiesen insgesamt fünf Kern-DNA-Abschnitte auf, die ursprünglich mtDNA gewesen seien, und bei etwa jedem Siebten seien die Einschübe noch relativ frisch.
Wie genau der Transfer von mtDNA in den Zellkern ablaufe – ob direkt oder über ein Zwischenprodukt wie RNA – sei nicht klar. In einer Pressemitteilung seiner Universität sagt Chinnery aber, dass der Transfer wahrscheinlich in der Eizelle stattfinde.
Und wozu das Ganze? »Unsere Kern-DNA bricht ständig und wird wieder repariert. mtDNA scheint dabei wie eine Art Pflaster zu wirken, das bei der Reparatur hilft. Manchmal funktioniert das, in seltenen Fällen aber auch nicht«, erklärt Chinnery. Dann könne etwa die Entstehung eines Tumors getriggert werden: In der Arbeit berichtet das Team, dass mtDNA in der Kern-DNA von 12.500 untersuchten Tumoren häufiger vorkam, nämlich bei circa einem von 1000, und dass die Insertionen das seltene myxoide Liposarkom wahrscheinlich auslösten.
Mehr als die Hälfte der mtDNA-Einschübe (58 Prozent) fanden sich in DNA-Abschnitten, die Gene enthalten. Allerdings waren die Insertionen dort meistens in Introns lokalisiert, also in Bereichen eines Gens, die selbst nicht kodieren und nach der Transkription in prä-mRNA im Zuge des Spleißens herausgeschnitten werden. Daher fanden die Forscher auch kein Indiz dafür, dass bestimmte mtDNA-Einschübe etwa seltene Erkrankungen verursachen würden. Sie seien zudem meistens durch Methylierung stummgeschaltet gewesen.