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Cannabis

Mit Volldampf in die falsche Richtung

Seit April ist Cannabis in Deutschland als Genussdroge legal und muss bei medizinischem Einsatz nicht mehr auf einem BtM-Rezept verordnet werden. Viele Konsumenten besorgen sich seitdem Privatrezepte für Cannabis im Internet. Was bedeutet das für diejenigen, die sich um einen rationalen Einsatz des Phytopharmakons Cannabis bemühen?
Annette Rößler
11.10.2024  14:00 Uhr

»Cannabis: Fortschritt oder Irrweg?« lautete das Thema einer Podiumsdiskussion im Format »PZ Nachgefragt« in der Pharma-World bei der Expopharm in München. Diskutanten waren Dr. Christiane Neubaur, Geschäftsführerin des Verbands der Cannabis versorgenden Apotheken (VCA), Sven Lobeda, angestellter Apotheker in der Apotheke Johannstadt in Dresden, sowie Professor Dr. Robert Fürst, Pharmazeutischer Biologe an der LMU München und Generalsekretär der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG). Auch die beiden Moderatoren Professor Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz, Pharmazeutischer Chemiker an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, und Professor Dr. Theo Dingermann, Senior Editor der PZ, beteiligten sich rege am Gedankenaustausch.

»Medizinalcannabis soll nur bei Vorliegen einer Indikation verordnet werden. Momentan haben wir aber die Situation, dass man an legales Cannabis nur herankommt, wenn man ein Rezept hat«, schilderte Dingermann die Ausgangslage. Denn seit der Teillegalisierung der Freizeitdroge Cannabis dürfen Konsumenten zwar bis zu drei Cannabispflanzen zum Eigengebrauch anbauen, doch nicht jeder Gelegenheitskiffer kann und möchte diese Möglichkeit nutzen, zumal der Anbau nur unter Auflagen erlaubt ist. Das gilt auch für die Cannabis-Clubs, denen Menschen, die Cannabis konsumieren wollen, beitreten können und die seit Juli legal sind – aber von den Bundesländern, in deren Zuständigkeit sie fallen, laut Neubaur »massiv verhindert« werden.

Die Regierung ist zu passiv

Nach der Legalisierung und dem Wegfall des Betäubungsmittel(BtM)-Status von Cannabis seien Telemedizin-Anbieter, die Privatrezepte über Medizinalcannabis ausstellen »wie Pilze aus dem Boden geschossen«. Mittlerweile machten Privatverordnungen 80 Prozent der Cannabis-Rezepte aus, hatte Neubaur kürzlich im Interview mit der PZ berichtet. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) will diese Entwicklung laut eigenem Bekunden »weiterhin aufmerksam beobachten«, geht aber bislang nicht gegen die Praktiken vor, obwohl die Webseiten häufig zumindest gegen das Heilmittelwerbegesetz verstoßen, wie Dingermann anmerkte.

»Die Regierung ist gefragt, hier nachzuschärfen, aber das zieht sich«, pflichtete Lobeda bei. Die Legalisierung sei »schlecht gemacht« gewesen und dies führe nun zu diesen Auswüchsen. Ohne die angekündigte zweite Säule des Cannabisgesetzes, mit der der Verkauf von Cannabis in lizensierten Abgabestellen legalisiert werden soll, sei das Gesetz unvollständig. Auch Präventionsarbeit, um einem riskanten Gebrauch von Cannabis entgegenzuwirken, finde momentan nicht statt.

Ein Wust von Blüten und Extrakten

Eine weitere Entwicklung trägt zur Komplexität des Themas bei: Dass nämlich immer mehr verschiedene Blüten und Extrakte auf den Markt drängen. Zurzeit seien es 400 bis 450 Blüten und 300 bis 350 Extrakte, informierte Lobeda. »Überfordert das nicht die ärztlichen Kollegen, die aus dieser Vielfalt auswählen müssen? Wäre hier nicht weniger mehr – dafür mehr Evidenz, mehr Qualität und mehr Übersichtlichkeit?«, fragte Schubert-Zsilavez. Lobeda räumte ein, dass wohl jeweils 100 Blüten und Extrakte ausreichen würden, um die verschiedenen Anforderungen an eine Therapie mit Cannabis zu erfüllen, doch sei er klar gegen eine Begrenzung. »Wir haben eine freie Marktwirtschaft; das wird sich regulieren«, gab sich der Apotheker überzeugt.

Hier erntete er jedoch entschiedenen Widerspruch: Er halte es für sehr problematisch, im Zusammenhang mit Arzneimitteln auf Marktmechanismen zu vertrauen, stellte Fürst klar. Bei Phytopharmaka, wie Cannabis eines ist, gehe man üblicherweise von einer präklinischen Prüfung aus, in der der Extrakt mit der besten Wirksamkeit ausgesiebt werde. Daran schlössen sich klinische Studien an. »Hier ist das auf den Kopf gestellt«, kritisierte Fürst. »Ich will Cannabis nicht schlechtreden, aber wir wollen doch die Wege gehen, die wir in der Phytotherapie gelernt haben.« Pharmazeutische Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit müssten in Studien gezeigt werden. »Davon gibt es bei Cannabis zu wenig.«

Aus Sicht des Pharmazeutischen Biologen schade das »dem ganzen Bereich«. Nirgendwo würden Fallberichte von Behandlungserfolgen so stark überbewertet wie bei Cannabis. »Das diskreditiert Cannabis, aber auch die gesamte Welt der Vielstoffgemische, die sich bemüht, eine Evidenzbasis zu schaffen«, bemängelte Fürst.

Bei der »Explosion des Marktes mehr oder weniger ohne Evidenz« handele es sich um einen Rebound-Effekt, gab Dingermann zu bedenken. Jahrzehntelang sei Cannabis nicht verkehrsfähig gewesen, dann sei die Legalisierung zunächst als Medikament »mit grober Nadel gestrickt« worden. »Da hat man ein paar Schritte zu schnell gemacht.« Dingermann wiederholte seine frühere Forderung nach klinischen Studien, für die sich mehrere Hersteller konsortial zusammentun sollten, um valide Daten zu generieren. »Stattdessen haben wir jetzt dieses Durcheinander«, bedauerte er.

Wissensvorsprung der Patienten

Die Unübersichtlichkeit des Marktes hat auch zur Folge, dass Patienten sich teilweise besser auskennen als die verordnenden Ärzte. »Das ist ein Sonderfall bei Cannabis. Viele Patienten haben sich schon sehr intensiv mit dem Thema befasst und in Selbstversuchen mit Cannabis vom Schwarzmarkt die Dosierung ermittelt, die ihnen am besten hilft. Damit gehen sie dann zum Arzt und machen diesem konkrete Vorschläge, was er verordnen soll«, sagte Neubaur. Sie begrüße es sehr, dass diese Patienten nunmehr legal ihr Cannabis in der Apotheke erwerben können. Dennoch seien klinische Studien wichtig, um jenseits dieser anekdotischen Berichte – die sehr beeindruckend sein könnten – eine Wirksamkeit zu zeigen.

Prinzipiell sei es aber doch zu begrüßen, wenn Patienten sich mit ihrer Therapie beschäftigen und gut auskennen, ergänzte Lobeda. »Ich würde mir wünschen, dass sich meine Patienten auch in anderen Bereichen so gut auskennen würden wie bei Cannabis, etwa bei Diabetes oder Bluthochdruck. Deshalb halte ich das eigentlich nicht für einen Kritikpunkt.« Hier widersprach ihm jedoch erneut Fürst: Das könne nur dann gelten, wenn der Patient, vor allem aber auch der Arzt die Therapie auf wissenschaftlicher Datenbasis beurteilen könne. »Aber diese Daten gibt es bei Cannabis einfach nicht.«

Klinische Studien gebe es nicht ohne Grund. »Mit ihnen wollen wir den Zufall ausschalten«, sodass ein Arzneimittel seine Wirksamkeit und Unbedenklichkeit »im Durchschnitt« beweisen könne. »Momentan haben wir einen ideologisch gewollten No-Label-Use. Das gibt es nirgends sonst und damit tun wir der Sache nichts Gutes«, sagte Fürst.

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